Bones and All (USA, IT 2022)

Was haben Kleist, der Autor Senthuran Varatharajah, «Twilight» und «Bones and All» gemeinsam?

Was haben Kleist, der Autor Senthuran Varatharajah, «Twilight» und «Bones and All» gemeinsam?

Jawohl: eine gute Prise Kannibalismus. Heinrich von Kleists «Penthesilea», «Rot(Hunger)» von Varatharajah oder auch die «Twilight»-Saga orientieren sich am selben Topos: In ihnen sind Tod und Liebe so eng miteinander verschränkt, dass «Küsse» und «Bisse» kaum mehr auseinandergehalten werden können. Der Magie der Anthropophagie, der Menschenfresserei, spüren sie in unterschiedlich raffinierter Weise nach. In Kleists Trauerspiel führt Penthesileas zunehmender Wahn zum tragischen Ende. Zu wortwörtlich wird nämlich die Metapher der «Fleischeslust» verstanden, sodass sie am Ende Achill, ihren Geliebten, aus Liebe zerfleischt. Einer wahren Begebenheit folgt hingegen Varatharajahs Erzählung. Er zeichnet die Liebesgeschichte eines Kannibalen lyrisch nach, der hingebungsvoll einen Masochisten verspeist. «Twilight» schliesslich überführt den Topos in die Popkultur. Bellas und Edwards gefährlich-verbotenes Verlangen nacheinander entwickelt sich zu einem toxischen Liebesverhältnis, das für Bella auch deutlich unglimpflicher hätte ausgehen können … Doch wie steht «Bones and All» zu dieser Erzählstruktur?

In Kannibalen- oder in Vampirgeschichten wie «Twilight» wird das sexuelle Begehren oft mit dem unstillbaren Verlangen nach Blut und Fleisch in ein analoges Verhältnis gesetzt. Die Horrorkomödie von Guadagnino konterkariert diesen altbekannten, tragisch-romantischen Topos. Die junge Maren (Taylor Russel) wird eines Tages von ihrem Vater verlassen, nachdem sich erneut ein schlimmer «Vorfall» abgespielt hat: Maren hat nämlich unkontrolliert ihrem blutigen Hunger nachgegeben. Um herauszufinden, wer sie wirklich ist, macht sie sich auf die Suche nach ihrer Mutter, die verschwand, als Maren noch ein kleines Kind war. Auf der Reise lernt sie den Landstreicher Lee (Timothée Chalamet) kennen, der wie sie ein dunkles Geheimnis hütet. Zu zweit setzen sie sich mit der eigenen dilemmatischen Neigung auseinander. Im Mittelpunkt der Handlung steht somit nicht der Kannibalismus, der sich auf ein Objekt der Begierde bezieht, sondern das Anderssein der Figuren und ihr innerer moralischer Konflikt zwischen Töten und Verlangen. Das Aufbrechen des altbekannten Topos wird durch die Vermischung verschiedener Genres unterstützt. Einerseits bedient sich «Bones and All» den Themen einer Coming-of-Age-Erzählung, garniert diese aber mit Einflüssen aus Roadmovie, Romanze und Horrorfilm, wobei die vielen blutrünstigen Szenen einen splatterhaften und komischen Beigeschmack bekommen. Durch diese verspielten Wechsel bleibt dem Publikum oft unklar, wie die Geschichte sich entwickeln wird und welches Genre sich hinter der nächsten Szene verbirgt. Erfolgreich erhält der Film damit die Spannung bis(s) auf die Knochen aufrecht.

 

Der Film ist auf Apple TV und Amazon Prime zu finden.

Andrea Frei ist Germanistin und liebt Genreverspieltheit im Film.

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