Iwan, der befürchtet, dass die Küstenwache auftauchen könnte. «Was machen wir dann?» Wir fahren trotzdem mit Iwan aufs Meer hinaus in der Morgendämmerung.
2022 gewann der Film «Ostrov – Lost Island» von Svetlana Rodina und Laurent Stoop den Schweizerischen Filmpreis für den «Besten Dokumentarfilm». Die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm fanden ab 2018 statt. Die beiden Regisseur*innen schreiben auf ihrer Website, der Krieg habe dem Dokumentarfilm eine neue Dimension verliehen. Zweifellos schauen wir den Film heute, obwohl nur wenig Zeit vergangen ist seit den Dreharbeiten, aus einer anderen Perspektive; es herrscht Krieg in Europa, und Russland wird zunehmend isoliert, beziehungsweise isoliert sich selbst, von der restlichen Welt.
Seit Generationen lebt Iwans Familie vom Fischfang auf der Insel im Kaspischen Meer. Die Behörden haben das Fischen irgendwann verboten. Es leben nur noch wenige Menschen auf der Insel, in einfachen Häusern. Man sieht mit Folien zugeklebte Fensteröffnungen und Garagen, die zugleich als Wohnzimmer dienen. Seit dem Verbot fährt Iwan illegal aufs Meer hinaus und nun auch sein Sohn. Viele sind wohl in die Stadt gezogen, aber Iwan sagt: «Meine Eltern sind hier begraben. Wohin soll ich gehen?»
«Ostrov – Lost Island» schaut sich gleich auf mehreren Ebenen wie eine Vorausahnung auf die bevorstehende Katastrophe. Die toten Wildschweine, die auf dem trockenen Sandboden liegen, erzeugen bedrohliche Bilder, genauso wie die Heuschrecken, die wie eine niemals endende Flut über die Dünen hüpfen – «sie marschieren», sagt Iwan.
Bezeichnend sind die Aufnahmen des russischen Fernsehens. Iwan und seine Kinder sitzen auf dem Sofa und schauen Putin zu. Die Ukrainer*innen werden als Faschisten dargestellt, die die Russen bedrohen. Putin wird gezeigt als einziger Hoffnungsträger. Iwan pflichtet Putin bei. Der Fischer und seine Freunde sind stolz auf ihr Land: «Wir sind ein unbesiegbares Volk. Putin hat uns mächtige Waffen gegeben. Wir haben nichts zu befürchten.» Während sie die russische Flagge hissen, scheppern im Hintergrund die Wellblechdächer im Wind. Es gibt keine medizinische Versorgung auf der Insel, keine Schule, keine sonstige Infrastruktur. Iwan diktiert seiner Tochter einen Brief an Putin. Dass sie doch bitte wieder die Lizenz bekommen mögen, um zu fischen. Der Sohn wird zur Armee geschickt. Er soll es einmal besser haben als seine Eltern.
In einzigartigen Aufnahmen gräbt sich der Film Bild für Bild einen Weg durch alle Widersprüchlichkeiten hindurch zu den Menschen, für die man als Individuen ein gutes Gespür bekommt, wodurch einem die Tragik der russischen Propaganda mit ganzer Wucht vor Augen geführt wird.
«Ostrov – Lost Island» kannst du für einen kleinen Preis auf myfilm.ch streamen.
Aline Kornicker studiert Germanistik und Filmwissenschaft an der Universität Zürich und an der Freien Universität Berlin.