«Wir können so viel von unseren Körpern lernen»

«Wir können so viel von unseren Körpern lernen»

Mit dem eigenen Körper Kunst schaffen – das tut Lyn Bentschik. In- und ausserhalb der Schweiz, unter anderem an der Winterthurer Jungkunst, führt Lyn eigene Werke auf. Lyns Arbeiten wurden mit dem diesjährigen Förderpreis der Stadt Winterthur ausgezeichnet. Ich will von Lyn wissen, was ein solcher Preis verändert und was passiert, wenn der Körper zum Werkzeug wird.

An einem regnerischen Herbsttag erzählt mir Lyn bei Hafercappuccino und Overnight Oats, was es bedeutet, mit dem eigenen Körper Kunst zu schaffen. Wir sitzen in einem ruhigen Innenhof, zwischen uns ein roter Metalltisch, der klappert, wenn wir mit den Beinen drankommen. «Ich habe in meinem Tanzstudium relativ klassisch meinen Körper als Instrument für Bewegung und Choreografie ausgebildet. Das ist eine Herangehensweise, um mit dem Körper über Tanz Kunst zu machen. Mittlerweile würde ich das viel weiter fassen», erzählt Lyn. Lyn hat in Stockholm Contemporary Dance Performance und dann an der ZHdK Choreografie studiert, ist aber irgendwann vom Tanz zu Performance weitergezogen. Diese Performances brechen das traditionelle Verständnis von Kunst auf, indem sie nicht zwingend eine vorgegebene Abfolge von Tanzschritten auf einer Bühne beinhalten, sondern eine Botschaft über freiere und alltäglichere Bewegungen, manchmal sogar über die Abwesenheit von Bewegung vermitteln. So präsentierte sich Lyn an der Jungkunst 2023 in einem Glaskasten in verschiedenen Kostümen, um auf die zahlreichen Rollen aufmerksam zu machen, die wir alle täglich einnehmen, und aufzuzeigen, mit welchen Bewertungen diese äussere Präsentation verbunden ist. Insbesondere ist Lyn bekannt geworden mit den Langzeit-Performances der weltbekannten Künstlerin Marina Abramović, die teilweise mehrere Tage dauern und nicht nur körperlich, sondern auch emotional viel fordern. In diesen und Lyns eigenen Werken ist stille Präsenzarbeit Teil der Performativität: präsent zu sein mit sich und mit allem, was ist. Zuzuhören. Das ist nicht einfach und nicht immer angenehm. Ohne sich gross äusserlich zu bewegen, dafür in intensivem Kontakt mit dem, was sich innerlich bewegt – so schafft Lyn Kunst mit dem Körper: «Ich habe angefangen zu begreifen, dass es gar nicht darum geht, was man macht, sondern vielmehr darum, wie man es macht. Wie man in Kontakt mit sich selbst ist und es schafft, in diesem Kontakt mit sich selbst auch in Kontakt mit anderen zu sein.»

 Die Menschen im Publikum spüren in der Betrachtung dieses Prozesses auf der Bühne eine Verletzlichkeit. In einer Gesellschaft, in der es so wenig Platz für Vulnerabilität gibt, fühlen sich viele davon angezogen, meint Lyn. Performance schafft einen Kontext, in dem man sich gemeinsam mit anderen zu dieser Verletzlichkeit getrauen kann. Vor Ort präsent zu sein, ist ein konfrontatives Erlebnis für die Zuschauenden. Das, was sie betrachten, schaut zurück: «Ich schaffe immer mit dem Material, das der Publikumskörper mir zurückgibt. Ich spüre die Leute.» Die Zuschauenden wollen eine solche Beziehung, hat Lyn die Erfahrung gemacht. Sie haben das Bedürfnis, gesehen zu werden. Gleichzeitig kann diese Konfrontation unangenehme Gefühle aufkommen lassen, zum Beispiel, wenn sie glauben, einfach nicht draus zu kommen: «Da sind die Leute manchmal grausam gestresst und richtig aufgebracht.» Am liebsten ist es Lyn, wenn die Menschen dann bleiben und sich ihren unangenehmen Gefühlen aussetzen, mit ihnen verweilen. «Man macht dann zusammen eine Evolution durch und es ist mega schön, wenn sich jemand diese Zeit nimmt.»

 Mit dem Körper zu arbeiten, bedeutet, dass in den Körper investiert werden muss – Unterhaltskosten sozusagen. Weil zugesprochene Fördergelder oder Gagen immer an spezifische Projekte gebunden sind, beinhalten sie kein Geld für ein Atelier, für Ferien, Zeit für neue kreative Ideen oder Kinderbetreuung. In den genau berechneten Budgets ist kein Platz für Erholung. Der von Lyn gewonnene Förderpreis der Stadt Winterthur ist eine Rarität: «Sonst hat man das nicht, dass man Geld für sich und seine Arbeit bekommt, welches man nicht rechtfertigen muss oder für etwas Spezifisches angefragt hat – ein riesiger Luxus!» Das zugesprochene Geld bedeutet, dass sich Lyn für all das, was zu dieser Arbeit mit dem Körper gehört und sonst nicht entlöhnt wird, bezahlen kann. Kunst wird häufig als etwas Kreatives und weniger als körperliche Arbeit gesehen. Für Lyns Arbeit ist es jedoch essenziell, gesamtheitlich auf den Körper zu achten, auch wenn dies nicht als Teil der Arbeit gelesen wird. «Die Unterhaltskosten sind da, ich muss mir die einfach leisten, sonst kann ich nicht arbeiten mit meinem Instrument. Wenn es meinem Körper schlecht geht, kann ich auch keine gute Kunst machen.»

 Zu einem gewissen Grad sind alle Performer*innen oder generell professionelle Sportler*innen abhängig vom Körper. Er muss das machen, was erwartet wird, daran hängt die Karriere und die ganze Lebensgrundlage. Da ist oft die Angst, dass er irgendwann nicht mehr funktionieren könnte. Als ich frage, ob Lyn solche Ängste hat, kriege ich eine Gegenfrage als Antwort: Was heisst funktionieren? Mit der uns prägenden westlichen Vorstellung einer Zweiteilung zwischen Körper und Geist kommt der Anspruch der Domestizierung einher; der wilde Körper muss vom Geist gezähmt werden: «Man muss dem Körper Tanzschritte beibringen, man muss den Körper in das Ideal hineindrücken, er muss schlank sein, er muss schön sein, er muss nicht behaart sein.» Aber es gibt ganz viele andere Formen, wie man tanzen, sich bewegen und mit dem Körper sein kann. Lyns Anliegen ist es, dass sich Wertungen auflösen. Wie viel könnten wir lernen, wenn wir nicht fragen würden, was der Körper leisten kann, sondern wie er sich anfühlt und was er braucht? Mit dem, was ist, da sein und das kreative Potenzial hinter Veränderungen sehen. «Ich plädiere fest dafür, dass nicht die einen Körper gut und die anderen schlecht sind. Ich würde mir wünschen, dass wir alle unseren eigenen, aber auch anderen Körpern, die ein bisschen aus der Norm fallen, mit weniger Angst und mehr Neugierde begegnen könnten», sagt Lyn. Und: «Wir können so viel von unseren Körpern lernen, wenn wir lernen würden, wie man zuhört und wie man sich selbst wahrnehmen kann. Der Körper ist eine reiche Welt, die sich ständig verändert – ein Buch, in dem jeden Tag neue Seiten geschrieben werden.» Wie spannend es doch wäre, dem Körper einfach zuzuhören?

 

 

 

Lynn Vellacott studiert Geschichte und immer wieder auch über anderes nach.

 

Lea Reutimann ist Werbefotografin aus Winterthur und liebt es zwischen Brotjobs mit Kunstschaffenden fotografische Projekte zu realisieren.

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