Ruth öffnet die Tür und hält sich am Türrahmen fest. Sie empfängt mich mit einem strahlenden Lächeln und lässt mich eintreten. Sowohl beim Stehen als auch auf dem Weg zum Tisch muss sie sich an den Wänden abstützen. Ihre Beine verkrampfen sich und zucken unentwegt. «Das ist gerade mein grösstes Problem, ich habe ein grosses Sturzrisiko», sagt Ruth und setzt sich auf den Stuhl. Ihre Beine bewegen sich unablässig weiter, lassen sie auch im Sitzen hin und her wanken. Dies wird während der nächsten eineinhalb Stunden für eine konstante Geräuschkulisse sorgen. Ruths Gesicht jedoch ist ruhig, ihre Augen klar. Kaum beginnt die 68-Jährige zu erzählen, fällt es leicht, sich voll und ganz auf ihre Geschichte zu konzentrieren.
«Mit 24 Jahren war ich plötzlich von Kleinigkeiten total erschöpft. Dabei war ich eine sportliche Person», erinnert sich Ruth. Sie hatte den Eindruck, dass etwas in ihrem Gehirn nicht richtig funktionierte. Aufgrund ihres jungen Alters wurde dies jedoch ausgeschlossen und die ärztlichen Abklärungen brachten sie nicht weiter. Erst drei Jahre später wurde für sie ein Termin für eine neurologische Untersuchung vereinbart. Davor lieh sich Ruth in der Stadtbibliothek eine Einführung in die Neurologie aus. «Da war ein alter Mann in Unterwäsche abgebildet, der genau so dastand wie ich in letzter Zeit: Die Knie leicht gebeugt, die Arme angewinkelt und nach vorne geneigt. Ich wusste sofort: Das ist es! Unten am Bild stand ‹Morbus Parkinson›.» Später wurde Ruths Vermutung von Neurolog*innen bestätigt: Ihre Nervenzellen, die den Botenstoff Dopamin produzieren, sterben nach und nach ab. Der Mangel an Dopamin verlangsamt ihre Bewegungen, verursacht Muskelsteifheit und wirkt sich auch auf ihre Stimmung aus. Von nun an würde Ruth bis zum Ende ihres Lebens Medikamente gegen die unheilbare Krankheit nehmen. Diese Medikamente wiederum würden zu unkontrollierten Bewegungen ihrer Gliedmassen führen.
Ruths Einstieg ins Erwachsenenleben war schon vor der Diagnose nicht einfach: Mit 21 Jahren verlor sie ihre Eltern bei einem Unfall. «Ich kann mir vorstellen, dass die Trauer auch dazu beigetragen hat, dass ich so früh erkrankt bin», sagt Ruth. «Ich habe aber schnell gemerkt, dass ich kein Opfer sein will und mich damit arrangieren muss.»
Glücklicherweise sprach sie gut auf die Medikamente an und konnte nochmals zehn Jahre ein ziemlich normales Leben führen. Sie schloss ihr Studium in Geschichte und Anglistik ab und arbeitete rund zwanzig Jahre als Lehrerin. «Ich bin natürlich nicht froh darüber, dass ich so früh erkrankt bin. Aber dafür hatte ich alle Kraft der Jugend, um zu lernen, mit Parkinson umzugehen», sagt Ruth. Das einschneidendste an ihrer Krankheit war für sie das Alleinsein: «Ich kannte niemanden, der oder die ebenfalls in meinem jungen Alter erkrankte. Wenn ich Selbsthilfegruppen aufsuchte, war ich mit Greis*innen konfrontiert.»
Als Ruth 2005 das Arbeiten aufgeben musste, hatte sie plötzlich viel Zeit. Sie begann, sich künstlerisch auszudrücken. «Vorher malte ich nur, wenn ich verliebt war», schmunzelt sie. Doch nun entwickelte sich eine grosse Leidenschaft, sie malte mit Pastellkreide und in Aquarell, konkrete und abstrakte Bilder und schuf Tonskulpturen. Obwohl sie sich vor allem aufs Kunstschaffen und weniger aufs Ausstellen oder Bewerben fokussierte, konnte sie einen Grossteil ihrer Bilder verkaufen. Vor rund sechs Jahren malte sie ihr letztes Bild. Sie kann nicht mehr genug lang stehen, um weitere Bilder zu schaffen. Dafür schreibt sie jetzt.
Angefangen hat sie mit Gedichten, dann kamen Kurzgeschichten dazu. Unterdessen arbeitet sie auch an einem autofiktionalen Roman, für welchen sie letztes Jahr von der Stadt Winterthur einen Literatur-Werkbeitrag erhielt. Parkinson werde als Krankheit betrachtet, die lähmt, die depressiv macht und das Leben zerstört, sagt Ruth. Bei ihr sei das nicht der Fall.
«Darf ich dir ein Gedicht vorlesen?» Dieses sei auf einem Zeltplatz während einer siebenmonatigen Reise durch Nordamerika und Australien entstanden. Sie und ihr jetziger Mann waren frisch verliebt und kannten sich noch nicht lange, als sie loszogen. Ruths Umfeld hielt es für ein waghalsiges Unterfangen. Doch Ruth liess sich nicht beirren: «Wenn es nicht geklappt hätte, dann hätten wir es wenigstens schnell herausgefunden», sagt sie und lacht. «Für mich brauchte das keinen Mut.»
Das Wesen
Da läuft es quer über den Platz auf federnden Pfoten, die kaum den Boden berühren. Die Muskeln spielen, spannen und lösen, gewandt, graziös und geschmeidig sein Trab. Wie ein perlender Lauf auf dem Flügel. Ich war die Einzige, die es sah. Die anderen waren beschäftigt mit Blachen, Klamotten und täglichem Kram. Ich glaubte an eine Erscheinung. Das Tier war aus einer anderen Welt, umhüllt von gleissendem Staub, es berührte mich wie ein Traum, im Wesen selbstvergessen. Ich rieb mir die Augen, da war es weg. Ich wünschte, es käme zurück.
Sie habe sich selbst eigentlich verboten, ein Gedicht über Parkinson zu schreiben, sagt Ruth. Aber hier habe sie die Krankheit wohl unbewusst verarbeitet: «Diesen perfekten, fast schwerelosen Gang des Koyoten, das Spannen und Lösen der Muskeln. Bei mir ist nur noch die Anspannung da.»
Zurück von ihrer Reise zogen Ruth und ihr Partner in ihre erste gemeinsame Wohnung nach Winterthur. Ein Jahr später heirateten sie.
Ihre Wohnung in Seen, in der sie mit ihrem Mann seit 21 Jahren lebt, kann Ruth seit Kurzem aufgrund der erhöhten Sturzgefahr nicht mehr ohne Begleitung verlassen:
«Da helfen kein Rollator und keine Stöcke mehr.» Diese Einbusse ihrer Unabhängigkeit mache ihr gerade sehr zu schaffen, so Ruth. Das Abklären der Rollstuhlgängigkeit sowie das Organisieren von Begleitpersonen sind nun fixer Bestandteil ihrer Ausflugspläne. Dank ihrem guten Freundeskreis, aus dem sie oft jemand besucht oder begleitet, seien solche Ausflüge jedoch möglich.
Kürzlich habe ihr ein Arzt erklären wollen, dass ihre Stürze nicht auf Parkinson zurückzuführen seien, sondern auf andere Ursachen. Die Erfahrung, dass ihr in Bezug auf ihre Krankheit nicht geglaubt wird, machte Ruth schön öfter. «Als ich die Diagnose erhielt, glaubten mir viele Leute nicht. Mein Bruder beispielsweise», erinnert sich Ruth. Doch nicht nur im engen Umfeld, sondern auch bei Gesundheitsfachpersonen wie Ärzt*innen stiess Ruth immer wieder auf Skepsis. Sie erklärt sich das mit den schwankenden Symptomen, die mal sichtbarer und mal weniger sichtbar sind. Ausserdem hätten viele Ärzt*innen wohl eher wenige Parkinson-Patient*innen und erst recht keine, die so jung waren oder bei denen sich die Krankheit schon seit über 40 Jahren entwickelt hatte. In solchen Situationen muss sie oft Aufklärungsarbeit leisten. Im besten Fall wird ihr geglaubt. Oft wird sie aber nicht ernst genommen, ihre Probleme wurden als «vor allem psychisch» beschrieben oder – in Ruths absurdester Erfahrung – es wurde ihr gesagt, sie hätte gar kein Parkinson. Wenn sie nicht ernst genommen wird, wechselt Ruth wenn möglich die Ärzt*innen: «Ich weiss, dass ich Parkinson habe. Ich habe genug Belege und lebe schon lange mit dieser Krankheit.»
Bevor ich gehe, zeigt mir Ruth ihre Kunstwerke, die an verschiedenen Stellen ihre Wohnung schmücken. Die bunten Farben leuchten. Dann begleitet sie mich zur Tür und hält sich am Rahmen fest, während wir uns verabschieden.
Aline Geissmann ist Redakteurin beim Coucou und dankbar für ihre Gesundheit.
Cate Brodersen liebt es, im Regen zu tanzen und schöne Momente mit der Kamera einzufangen