Über Steine, Striche und die Leere

Über Steine, Striche und die Leere

Wolfgang S. Weber bezeichnet sich nicht als Künstler, Tuschmaler oder Steinschleifer, sondern als malend, schleifend, und vor allem: als übend. Seine Herangehensweise ist dabei ebenso philosophisch wie bodenständig.

Die ersten Schneeflocken des Winters fallen leise und dicht in der Abenddämmerung, als ich Wolfgang im «Neustadthus» zum Gespräch treffe. Die verwinkelte Ansammlung von alten Kleinbürger*innen- und Handwerker*innenhäuschen beherbergt heute verschiedene Ateliers und Werkstätten. Via den leicht versteckten Innenhof gelange ich zu Wolfgangs Atelier, über dessen Fassade sich Kletterpflanzen ranken. Beim Betreten kommt es mir vor, als hätte ich die Türe zu einem anderen Universum geöffnet. Jede Fläche – von den Tischen über die Wände bis hin zu diversen Staffeleien – ist komplett belegt mit Zeichnungen, Steinen, Mal- und Werkutensilien. Wo der Blick auch hinfällt, gibt es etwas zu entdecken. Sanfte klassische Musik im Hintergrund schafft eine entspannte Atmosphäre.

 «Ich bin seit zwanzig Jahren hier und die Gänge werden immer enger», lacht Wolfgang und räumt mir einen Platz frei. Als er zu erzählen beginnt, wird sein ganzheitlicher Zugang zu Kunst und Handwerk deutlich: Sein fundiertes handwerkliches Können verbindet er mit einem tiefen Verständnis für seine Materialien und verwebt dies mit kunsthistorischem und philosophischem Wissen.

 Aufgewachsen ist Wolfgang im Nordschwarzwald, wo er Schmuckdesign mit Fokus Industriedesign an der Hochschule für Gestaltung in Pforzheim studierte. «Wir lernten, wie man Schmuck gut und günstig reproduziert», erzählt er. «Dabei arbeiteten wir zum Beispiel viel mit Kunststoff – Stein war eher sekundär.» Bald nach Abschluss des Studiums zog es ihn der Liebe wegen nach Winterthur. Das war Anfang der 1970er-Jahre, als der Goldpreis auf ein neues historisches Hoch kletterte. Die Schmuckbranche litt stark und es kam zu vielen Entlassungen. «So habe ich mich mit anderen Jobs durchgeschlagen», erinnert sich Wolfgang. Zunächst im Gartenbau, dann in der Möbelrestauration. Dank dieser Arbeitserfahrung wiederum bekam er eine Stelle als Arbeitsagoge in einer Drogentherapie, wo er in einer Werkstatt mit Suchtkranken zusammen Möbel baute und restaurierte. Von dort wechselte er zu einer Stelle als Ergotherapeut in der Psychiatrie und machte schliesslich eine Ausbildung zum Kunsttherapeuten. Nach insgesamt fast zwanzig Jahren in diesem Bereich wurde es Zeit für etwas Neues.

Der Gedanke an ein eigenes Atelier nahm langsam Gestalt an. «Ich hatte an einer geologischen Exkursion in Graubünden teilgenommen, bei der wir Steine gesucht und geschliffen hatten», erzählt Wolfgang, «und als ich daraufhin eines Tages sinnierend durch die Gassen Winterthurs wanderte, hatte ich plötzlich eine klare Vision: Ich befasse mich mit Steinen und mache Schmuck!» Er zog in ein Atelier im «Neustadthus» und verbrachte ein Jahr komplett zurückgezogen: Von morgens bis abends schliff er, bohrte er, brachte sich jeden Handgriff selber bei und übte ihn, bis er sass. 2003 war es so weit und er öffnete die Türen seines Ateliers, wo er seither Steine, Schmuck und Bilder ausstellt und verkauft sowie Kurse anbietet. Neben dem Kunstschaffen ist es Wolfgang weiterhin ein Anliegen, sein Wissen weiterzugeben. «Dabei will ich nicht einfach Handgriffe lehren, sondern eine gewisse Grundhaltung vermitteln», betont er. Der Prozess sei viel wichtiger als das Produkt. «Leuten, die zu mir in einen Kurs kommen, sage ich: ‹Du machst hier etwas für dich! Es geht nicht nur um die glänzenden Steine als Resultat.›»

 Auch fernöstliche Tuschmalen lehrt Wolfgang Interessierten. Seine erste Begegnung mit dieser exotischen Kunst hatte er bereits als Kind: «Fast das einzig Wertvolle, was meine Mutter nach dem Krieg noch hatte, waren zwei japanische Rollbilder mit Landschaften», erinnert er sich. Viele Jahre später begann er, sich intensiv mit dieser Kunstform zu befassen. «Traditionelle Tuschmalerei hat ihren Ursprung mehr als 2000 Jahre zurückliegend in China und wurde von Japan und Korea übernommen und weiterentwickelt», erzählt Wolfgang, während er einen Bogen dünnes Papier vor sich ausbreitet. «Diese Maltechnik stammt von der Kalligrafie ab und es geht essenziell immer nur um den Strich.» Was banal klingt, ist hohe Kunst und braucht jahrelange Übung. In einer flachen Schale reibt er einen soliden Barren Tusche mit ein paar Tropfen Wasser an und zeigt verschiedene Pinselstriche vor: spitz zulaufend wie ein Blatt, dicker werdend wie ein Knochen, krumm wie ein knorriger Ast. «Der Strich soll ohne feste Absicht entstehen», kommentiert er und bewegt den Pinsel locker übers Papier. Das Bild erscheine spontan im Moment des Malens. «Es geht nicht um die realistische Darstellung eines Objektes, sondern um den Versuch, dessen Wesen einzufangen.» Die westliche Idee der künstlerischen Absicht und des fertigen Werkes gibt es im traditionellen fernöstlichen Denken nicht. Alles ist nur eine Übung und die praktische Anwendung des Taoismus, einer jahrtausendalten chinesischen Philosophie und Weltanschauung. Sie beschreibt das Tao als etwas Unsichtbares und Unbeschreibliches, das aber zugleich die Quelle von allem darstellt; es bestimmt den Fluss des Lebens und das natürliche Gleichgewicht. Im Tao vereinen sich Gegensätze wie Leere und Fülle. Deshalb sei der Leerraum in der Tuschmalerei ebenso bedeutungsvoll wie das Gemalte selbst, wie Wolfgang betont.

 Ein weiterer solcher Gegensatz sei das Prinzip des Wu Wei; nicht-handelnd zu handeln. «Das bedeutet, intuitiv und absichtslos zu handeln, statt etwas zu erzwingen oder kontrollieren zu wollen», erläutert Wolfgang. Und genau das mache die Tuschmalerei zu einer Art meditativen Übung. Die Maler*innen schaffen aus einer inneren Leere heraus. Diese Leere bedeute aber nicht nichts, sondern die Annäherung an einen Zustand der absoluten Harmonie mit sich und der natürlichen Welt. Er legt den Pinsel ab. «Das ist also der Strich», schliesst er simpel. Entstanden ist eine wunderbare Tuschzeichnung von Bambusblättern.

 Die Verbundenheit mit der Natur und der achtsame Umgang mit dem Material ist für Wolfgang auch beim Steinschleifen zentral. «Ob Steinoberfläche oder Pinselstrich: Strukturen und die Frage danach, wie etwas näher betrachtet aussieht, interessieren mich. Es muss kein wertvoller Stein sein, durch die Schleifarbeit kann trotzdem eine unglaubliche Palette an unterschiedlichsten Farben und Strukturen zum Vorschein kommen.» Jedes Gestein habe eine unfassbar lange Geschichte und seine eigenen chemischen, physischen, visuellen, ja sogar olfaktorischen Eigenschaften, die es zu würdigen gelte. «Viele Leute wollen nur Edelsteine schleifen», fährt er fort, «Das kam für mich nie in Frage». Edelsteinhandel sei verbunden mit Ausbeutung und dreckigen Geschäften. «Wenn ich in der Natur bin und so viele schöne Steine sehe, dann möchte ich aus denen etwas erschaffen», schliesst er.

 Um ein Gefühl für die Arbeit zu bekommen, darf ich mit einem selbst mitgebrachten Stein selbst an die Schleifmaschine. Vom ersten, formgebenden Grobschliff arbeiten wir uns voran zu immer feiner gekörnten Schleifrädern. Es ist kein Kraftakt, sondern ein Prozess, der Geduld braucht und nicht nur die Augen, sondern auch den Hör- und Tastsinn fordert. Als ich das Atelier ein paar Stunden später verlasse, liegt eine dicke Schneedecke über der Stadt. und ich mache mich mit einem Gefühl der Inspiration und Gelassenheit auf den Heimweg.

Sabina Diethelm ist freischaffende Fotografin, Schreibende und Beobachtende, die von jeder Reise und Wanderung mit den Hosentaschen voller Fundstücke aus der Natur zurückkehrt.

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