Zwei mal drei Zentimeter gross und zu einem erschwinglichen Preis erhältlich, Kunst im Kleinformat, die gelegentlich um den halben Globus reist. Die Rede ist von einer Briefmarke. Als Kind träumte Notta Caflisch davon, eine solche gestalten zu dürfen. Heute schafft die 45-Jährige Skulpturen aus Alltagsgegenständen und ist schweizweit als Künstlerin tätig.
Im Jahr 2022 führte die Liebe die gebürtige Bündnerin und Kanadierin nach Winterthur. Als ein*e andere*r Interessent*in für eine Genossenschaftswohnung in der Vogelsang-Siedlung absprang, wurde stattdessen Nottas Los gezogen. Sie hatte vorher 20 Jahre in Chur gelebt und sich dort daheim gefühlt. Doch in der aussergewöhnlichen Überbauung am Hang mit Sicht über Winterthur und Nähe zum Waldgebiet fand Notta schnell ein neues Zuhause.
Notta empfindet die Winterthurer*innen als lässig und aufgeschlossen. Richtig angekommen sei sie hier aber bisher nicht: «Ich war ständig unterwegs, bin die ganze Zeit in S-Bahnen gesessen. Ein Jahr lang bin ich nach Zürich gependelt, dann nach St. Gallen für meine ‹Brotjobs› als Sammlungsspezialistin oder Archivarin. Dass ich von hier aus an so viele Orte pendeln kann, finde ich praktisch.»
Erste Berührungspunkte mit Winterthur hatte Notta schon vor ihrem Umzug: 2018 stellte sie ein Kunstwerk in der Galerie Weiertal aus. «Ich war absolut erstaunt darüber, wie schön es dort ist. Ich hätte nicht gedacht, dass es ausserhalb von Graubünden so schöne Orte gibt», erzählt sie und lacht. Im Sommer 2022 stellte sie zum Ausstellungsthema «VonWegen» ein weiteres Kunstwerk mit dem Titel «For They Ran Much Faster Than I Could Go» in derselben Galerie aus. Die Holzkonstruktion besteht aus roten Converse-Turnschuhen auf einem rot lackierten Schaufelrad und erinnert an einen Mississippi-Dampfer. Das Kunstwerk thematisiert die unaufhaltsame Einwanderung der Europäer*innen im 17. Jahrhundert in den nordamerikanischen Kontinent. Die Einheimischen wurden verdrängt oder durch eingeschleppte Krankheiten ausgerottet. Die Skulptur zeigt, wie diese Menschen «unter die Räder kamen». Damit greift sie die andauernde Thematik auf, dass verschiedene Minderheiten bis heute ausgegrenzt werden. Das Kunstwerk ist noch bis am 30. Oktober an der 9. Schweizer Triennale der Skulptur in Bad Ragaz ausgestellt.
Für ihre Kunst liest Notta viel, recherchiert in Sachbüchern und «jagt» Quellen nach. Ihre Arbeiten benennt sie dann oftmals nach einem Teilsatz, den sie während ihrer Recherche findet. Nebst der Besiedelung des nordamerikanischen Kontinents und der Industrialisierung beschäftigt sie sich in ihren Werken vor allem mit Konsum und Ungleichheit. «Ich möchte Missstände aufzeigen und die Betrachter*innen zum Nachdenken anregen. Deshalb mache ich momentan viele verspiegelte Arbeiten, in denen man sich selbst sehen kann», erklärt Notta. Weiter führt sie aus: «Es möchte nie jemand involviert sein in die Sachen, die schief laufen. Aber wir stecken alle knietief in ihnen. Sie sind Folgen unseres Handelns.» So verfolgt sie in ihrer Kunst den Gedanken, dass man bei sich selbst anfangen solle, wenn man etwas in der Welt verändern möchte. Dies wird auch in ihrem Kunstwerk «The Key Lies Within», das in der Sommerausstellung 2024 ebenfalls in der Galerie Weiertal zu sehen war, ersichtlich. Der Metallkasten hat die Form eines Türschlosses und das Schlüsselloch ist so gross wie ein Handspiegel. Blickt man in das Kunstwerk, erkennt man aufgrund der Spiegelung im Inneren sich selbst und wird so zur Selbstreflexion aufgefordert.
Dass Kunst ein Ausdrucksmittel ist, entdeckte Notta bereits in ihrer Kindheit. Schon früh nahm ihr Vater sie ins Kunstmuseum in Chur mit. Prägend war für sie auch der Comic «Maus» von Art Spiegelman, der die Geschichte eines Überlebenden des zweiten Weltkriegs mittels kraftvoller Illustrationen erzählt. In ihrer internationalen Familie hat sie schon früh gemerkt, dass je nach Herkunft anders auf gewisse Tatsachen geblickt wird. Beim Kunstschaffen kann sie das verarbeiten. «Wenn mein Kunstwerk eine Diskussion anregt, habe ich mein Ziel erreicht. Meine Kunst soll den Meinungsaustausch fördern», erklärt Notta.
Notta schloss eine Lehre als Grafikerin ab und arbeitete neben der Erziehung ihrer beiden Söhne Teilzeit. Doch die Arbeit als Grafikerin warf verhältnismässig wenig Geld ab und machte sie nicht glücklich. Sie wollte sich geistig mehr fordern und mit gleichgesinnten Leuten in Kontakt treten. Vor 10 Jahren wagte sie den Sprung ins Ungewisse und fing mit Kunst an, während sie sich über Nebenjobs finanzierte. Ihre Freund*innen aus der Kunstszene erleichterten ihr den Wechsel, machten ihr Mut. Notta ist begeistert vom Kunstschaffen. «Auch wenn es mich langsam belastet; mein Kunstarchiv ist bis zum Rand gefüllt!», erzählt sie und lacht.
Notta wünscht sich, dass Kunstschaffenden künftig finanziell mehr geboten wird. Sie beobachtet einen Wandel in der Kunstszene: Zum einen hat der Berufsverband Visarte einen Honorarleitfaden eingeführt und je länger je mehr wird in verschiedenen Ausstellungsformaten eine Spesenentschädigung oder ein kleines Honorar vergütet. Dennoch ist die Beschaffung der finanziellen Mittel für ein Kunstwerk ermüdend: «Ich muss immer ein Budget aufstellen und hoffen, dass das dann bewilligt wird. Viele Stiftungen anerkennen dann nur Teile des Betrages, den ich eigentlich benötigen würde.»
Und der Wunsch, eine Briefmarke gestalten zu dürfen? Der besteht immer noch. «Ich habe eine Endlosliste mit Ideen für neue Projekte», sagt Notta. Bei einem ihrer aktuellen Projekte dreht sich alles um Stockfische. Genauer gesagt darum, wie an der Ostküste in Kanada das Meer ausgefischt wurde. Der Fisch als Teil des globalen Handels und der Beginn der Besiedelung Kanadas im 19. Jahrhundert. Dafür reiste Notta bereits nach Kanada und Schottland. Als Abschluss ihrer Recherchereise begibt sie sich im Oktober gemeinsam mit anderen Kunstschaffenden und Wissenschaftler*innen im Rahmen des Projekts «Arctic Circle» auf ein altes Segelschiff, um den arktischen Ozean zu erkunden.
Nina Cascioni ist Journalismusstudentin aus St. Gallen. Wenn sie nicht gerade an einem Artikel schreibt, findet sie ihren Flow im Yoga, teilt Geheimnisse mit ihrem Tagebuch und träumt von Einhörnern.