«Ich wollte mitmachen bei der Revolution!»

«Ich wollte mitmachen bei der Revolution!»

In der Winterthurer Gastro- und Kulturszene ist Paco Manzanares kein Unbekannter. Die wenigsten dürften jedoch von seiner Vergangenheit während der «Winterthurer Ereignisse» wissen. Rückblickend erzählt er von Punk und Heroinkonsum, der Flucht nach vorne und davon, wie ihm die Musik und das Kochen halfen, weiterzumachen.

«Hola Paquito!» – Wie ein alter Freund wird Paco Manzanares im «Widder» begrüsst.  Schon in den 80er-Jahren, als das Lokal zum Treffpunkt der linksalternativen Szene Winterthurs wurde, verkehrte er hier. Er wohnte 1982 sogar eine Zeit lang im ersten Stock; sein Zimmer war im Raucherstübli, wo heute der «Jöggeli»-Kasten steht. «Hinter dem neuen Anstrich ist möglicherweise noch ein Bild von mir», mutmasst Paco, lächelt und nimmt einen Schluck von seinem Bier.

Paco, der mit bürgerlichem Namen Francisco heisst und 1962 als Sohn spanischer Eingewanderter in Winterthur zur Welt kam, sei «ein typisches Secondo-Schlüsselkind» gewesen. Die fehlende elterliche Kontrolle habe zu einem «etwas wilderen Leben» geführt, wie er rückblickend sagt: «Zuerst war ich ein klassischer 70er-Jahre-Disco-Boy, dann kamen der Punk und die Jugendunruhen. Politisiert wurde ich durch die 80er-Bewegung in Zürich.» Er begann, Publikationen wie die Zürcher Bewegungszeitschrift «Eisbrecher» zu lesen und sich mit den darin angeprangerten Missständen in Gesellschaft und Politik auseinanderzusetzen. «Gopf, das geht so nicht weiter, man muss etwas tun!», sagte sich Paco und schmiss seine Schriftsetzerlehre hin, als es in Zürich «brannte»: «Ich wollte mitmachen bei der Revolution!»

So wurde er Teil der «Wintis», einer losen, anarchistisch geprägten Gruppe mit dem später bekannt gewordenen Maler Aleks Weber, die als militanter Teil der heterogenen 80er-Bewegung in Winterthur Geschichte schrieb. Kennengelernt habe man sich im Jugendhaus. Eine wichtige Rolle spielte die Punkmusik: «Ich habe gezwungenermassen Punkrock gespielt, weil niemand etwas anderes spielen wollte», erzählt Paco und lacht. Er selbst habe gar keine Punkmusik gehört. Gespielt habe er sie aber gerne, «weil sie einfach so eine ‹huerä› Energie hat.» Passend zum teils nihilistischen Lifestyle der Punkbewegung kam Paco auch bald mit Drogen in Berührung. Zuerst Hasch, später Heroin. Seine ersten Erfahrungen mit Heroin machte Paco im Autonomen Jugendzentrum AJZ in Zürich; da habe sich Heroin verbreitet «wie eine Seuche»: Plötzlich sei der Stoff überall gewesen und das auch noch «saubillig». Das habe die Szene rund um das AJZ und die Zürcher Bewegung von innen zerfressen wie ein Tumor, erinnert sich der heute 62-Jährige. Auf die Jugendunruhen in Zürich folgten bewegte Zeiten in Winterthur: Im Kampf um mehr Freiräume und bezahlbaren Wohnraum griffen die «Wintis» nicht nur zu Pinseln und Spraydosen, sondern auch zu Steinen und Brandsätzen. «Aus heutiger Sicht kann man natürlich sagen, dass dies ziemlich aussichtslos war. Aber mit der damaligen Energie hatten wir das Gefühl, etwas bewegen zu können», schaut Paco zurück. Als Reaktion auf eine Serie von Sachbeschädigungen und Brandstiftungen verhaftete die Polizei im November 1984 schliesslich rund 30 junge Erwachsene aus verschiedenen Wohngemeinschaften in Winterthur, darunter auch Paco. «Nach fünf Wochen Untersuchungshaft bin ich rausgekommen, habe eine neue Band gegründet und sofort wieder Drogen genommen», erzählt er mit einem Grinsen.

Spurlos ging diese Zeit jedoch nicht an ihm vorbei: «Ich hatte das Gefühl, dass eine bleierne Decke über dieser Stadt und den hier lebenden Menschen lag. Ich hielt es nicht mehr aus, ich musste weg!» Als sich die Gelegenheit bot, eine Weiterbildung an der Kunstgewerbeschule in Basel zu absolvieren, nutze Paco die Chance für einen Neuanfang und zog 1987 in die Stadt am Rhein. Schnell fasste er Fuss in der Basler Kulturszene und begann, Warehouse- und Acid-House-Partys mitzuorganisieren. Er arbeitete als Grafiker, später als Assistent eines Galeristen und fing an, sich immer mehr mit elektronischer Musik auseinanderzusetzen. 1999 gründete er mit drei Freunden das Label «Micromusic» mit dem Slogan «low tech music for high tech people».

Als er davon erzählt, funkeln seine Augen. «Micromusic» sei nicht nur der Name ihres Labels, sondern auch ein Überbegriff für Musik, welche direkt ab den Soundprozessoren von alten Spielekonsolen wie Gameboys oder Ataris generiert werde, erklärt er. Mit Bezug auf die Bit-Rate des Prozessors nennt man dieses Genre auch 4-Bit- oder 8-Bit-Musik. «Wenn man diese Musik laut hört, dann hat das eine rohe Energie und eine Power, da kann Punk einpacken», schwärmt Paco. Während der 90er-Jahre erfreute sich nicht nur Techno immer grösserer Beliebtheit, auch eine Erfindung namens Internet sorgte für Aufsehen und neue Möglichkeiten – unter anderem in der Musikszene. 1999 ging die Website von «Micromusic» online. Auf der Seite konnte man eigene Tracks hochladen und es gab einen separaten Chatroom für Mitglieder. Ohne sich dessen bewusst zu sein, hatten Paco und seine Freund*innen mit «Micromusic» ein soziales Netzwerk geschaffen – noch vor Facebook und Myspace.

Nach der Jahrtausendwende wurde es ihm dann allerdings auch in Basel zu eng, der sogenannte «Basler-Daig», die alteingesessene Basler Oberschicht, habe alle namhaften Kulturinstitutionen kontrolliert, Neues zu schaffen sei beinahe unmöglich gewesen. So kehrte er 2003 nach Winterthur zurück, in die Stadt, die er 16 Jahre zuvor fluchtartig verlassen hatte. In der Zwischenzeit hatte sich einiges verändert: Es war einfacher geworden, autonome und nicht-kommerzielle Projekte zu lancieren, wie beispielsweise das Radio Stadtfilter, an dem der ehemalige «Winti» Jürg Feuz mitbeteiligt war. Paco war bei den ersten Sendungen mit dabei und moderierte ab 2012 sechs Jahre lang das Mittags-Format «High Noon» des neuen Radiosenders aus Winterthur.

Der Neustart in der alten Heimat erwies sich für den damals 41-Jährigen jedoch als schwierig: «Ich hatte eine Lebenskrise, ging auf das Sozialamt und bezog IV. Ich war kaum noch lebensfähig.» Einmal mehr brauchte Paco eine Veränderung und fand diese in seiner Leidenschaft fürs Kochen. Er begann, als Quereinsteiger im Restaurant Akazie (wo heute das Restaurant Rosa Pulver ist) zu arbeiten und übernahm 2012 die Küchenleitung in der Villa Sträuli. «Ich habe meinen Fanatismus in die Küche getragen», erzählt er und lacht. Nach seiner Zeit in der Villa Sträuli kochte er für diverse Pop-up-Restaurants in Winterthur und andere temporäre Projekte. Nebst dem Kochen steckt er aktuell viel Herzblut in ein Fotoprojekt, bestehend aus einer Reihe von Bildern, die  mit der Kamera eines Gameboys aufgenommen wurden. Sein Wunsch ist es, diese Werke eines Tages in einer Ausstellung zu präsentieren.

Im Zuge der Aufarbeitung der «Winterthurer Ereignisse» wäre es Paco wichtig, dass vor allem die ungeheure Kraft und kreative Energie der jungen Bewegten von damals zum Ausdruck komme. Diese hätten schliesslich Spuren hinterlassen und die Stadt verändert; die heutige Kulturlandschaft lässt sich kaum noch mit derjenigen aus den 80er-Jahren vergleichen. Was Paco heute ein wenig vermisst, sei «der Mut zum Wahnsinn», wie er es lächelnd nennt. Dieser Mut prägt auch die Biografie von Paco, er wolle alles, nur nicht stehen bleiben, sagt er und trinkt aus. Auch wenn er einige schmerzvolle Erinnerungen an die 80er-Jahre habe, hätten ihn die Erfahrungen in seinen Zwanzigern insgesamt gestärkt. Er denkt kurz nach und lächelt: «Vielleicht muss man manchmal zuerst einen Misthaufen produzieren, damit darauf dann eine wunderbare Blume wachsen kann.»

Julien Felber ist Fotograf und Journalismusstudent aus Winterthur. Er interessiert sich für die Geschichte sozialer Bewegungen in der Schweiz und recherchiert seit über einem Jahr zum Thema der «Winterthurer Ereignisse».

Der Historiker Miguel Garcia hat im Rahmen eines Oral History Projektes mit Protagonist*innen der 80er-Jahre in Winterthur gesprochen. Die aufgezeichneten Gespräche sind im Sozialarchiv (Signatur F 9101) zu finden: www.bild-video-ton.ch

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