Kunst als Kollaboration

Kunst als Kollaboration

Geraldine Tedder ist Kuratorin und Autorin, aufgewachsen zwischen England und der Schweiz. Anfang Jahr hat sie die Direktion der Kunsthalle Winterthur übernommen, wo gerade ihre erste Ausstellung «SCRIPT – MEMORY» zu sehen ist. Sie möchte die Kunsthalle als Ort der Involviertheit gestalten, wo Kunst unmittelbar erlebbar wird.

Der Eingang zur Kunsthalle ist etwas versteckt; mitten in der geschäftigen Marktgasse, zwischen eng gedrängten Shops mit ablenkend lauten Schaufenstern, findet sich das historische Waaghaus mit seinen gotischen Arkadenfenstern. Wenn man – die Treppe hoch, vorbei am Figurentheater – die Kunsthalle betritt, öffnen sich den Besucher*innen grosse, helle Räume mit hohen Stuckdecken. «Man erwartet diese Räumlichkeiten hier gar nicht», bestätigt Geraldine meine unausgesprochenen Gedanken, als ich sie hier zum Interview treffe. Es ist Ende März und momentan stehen die Ausstellungsräume komplett leer. Nur Klebstreifen lassen erahnen, wo die Werke der Gruppenausstellung «SCRIPT – MEMORY» bald ihren Platz finden werden. «Der Aufbau beginnt gerade», erklärt Geraldine. Es liegt eine förmlich spürbare, gespannte Vorfreude in der Luft.

Im Büro räumt sie rasch einen Tisch frei, auf dem noch Bücher, Werkzeuge und Holzklebstoff liegen, und stellt uns eine Bialetti mit frisch gebrautem Kaffee hin. «Die Kunsthalle nach Oliver Kielmayer, der so lange hier war, zu übernehmen, fühlt sich an, als dürfte ich ein ganz neues Kapitel in der Geschichte der Kunsthalle schreiben», freut sich Geraldine. «Die Räumlichkeiten und die Grösse der Kunsthalle gefallen mir extrem gut und passen zu dem, was ich momentan bewirken möchte», erzählt sie. In diesem Rahmen sei es möglich, sich auf intimere Weise mit gewissen Fragen zu beschäftigen, als es an einer grösseren Institution möglich wäre. «Ich möchte dazu Kollaborationen mit anderen Kurator*innen, Schreiber*innen und Künstler*innen eingehen und einen engen Austausch mit ihnen pflegen», betont sie. Und sie wolle sorgfältig kuratieren: «Meine Arbeitsweise muss nicht laut, soll aber immer mutig sein.»

Die 38-Jährige lebt mit ihrem Partner und ihrer zweieinhalbjährigen Tochter in Zürich und ist Winterthur gerade erst am Entdecken. In ihrer Freizeit liest sie gerne und oft, momentan auch viele Kindergeschichten. Sie liebt Grossstädte, zielloses Flanieren durch deren Strassen, hügelige Landschaften, Stürme und den Wind – «der bläst hier viel zu wenig!», findet sie. «Und ich esse gerne, am liebsten Pasta, oft und viel. Zu Hause nennen sie mich deswegen schon Pasta-Monster!»

Dass sie sich mit Kunst befassen möchte, war Geraldine früh klar: «Ich habe irgendwie gar nie etwas anderes in Betracht gezogen.» Prägende Jahre ihrer Kindheit hat sie in Südengland verbracht: «Wir haben als Kinder zwar nicht oft Museen besucht, aber in meinem Umfeld war immer ein ausgeprägter Sinn für Ästhetik da.» Ein besonderes Erlebnis sei eine Florenz-Reise als Teenager gewesen. «Die Renaissance-Kunst dort hat mich total umgehauen», lacht sie. «Ab dem Zeitpunkt habe ich angefangen, eifrig Kunstbücher zu studieren.»

Auf den Bachelor in Kunstgeschichte an der Universität Zürich folgte der Master in Bern mit Fokus auf zeitgenössischer Kunst. Dieser Schritt habe vieles bewegt, sagt sie. «Zeitgenössische Kunst erlaubt es, sich mit aktuellen Fragen und Diskursen auseinanderzusetzen und gesellschaftlich Relevantes zu thematisieren.»

Gegen Ende des Studiums fand Geraldine eine Stelle bei der Kunsthalle Bern. «Der Schritt von der Theorie zur Praxis war ein ziemlicher Sprung ins kalte Wasser», erzählt sie. Der baldige Direktionswechsel zeigte ihr eindrücklich, wie die Direktion ein Haus prägen kann mit ihrem Stil und ihren Schwerpunkten: «Das führte dazu, dass ich mich früh damit auseinandersetzte, wie ich selbst kuratieren will.» Unter der neuen Direktorin Valerie Knoll kuratierte sie in Bern schliesslich selbst eine Ausstellung über literarisch arbeitende Künstler*innen. Der Zusammenhang zwischen Kunst und Schreiben kristallisierte sich dabei immer mehr als weiteres persönliches Interesse heraus.

Nach sechs Jahren in Bern bewarb sich Geraldine mit einem Schreibprojekt am Instituto Svizzero dell’Arte in Rom für eine Residenz. Das Institut ist eine wunderschöne Villa, zwischen Gärten auf einem Hügel gelegen. Es sei ein absolutes Privileg, dort zu sein, «aber es ist schon auch eine richtige Bubble», erzählt Geraldine. Zusammen mit dem Künstler PRICE gründete sie deshalb den Offspace Lateral Roma mitten in der Stadt, um mehr Austausch mit der römischen Kunstszene zu schaffen. Dieser wird bis heute von Lokalen und Resident*innen des Instituts weitergeführt.

Zurück in der Schweiz folgte eine Anstellung im Departement Architektur der ETH, bevor Geraldine ihren Weg nach Winterthur fand. «SCRIPT – MEMORY» ist der Auftakt ihres Wirkens in der Kunsthalle. Die Ausstellung stellt die Frage, wie das (kunstschaffende) Ich in Bezug zum Umfeld steht. Die Kunstschaffenden der Gruppenausstellung brechen bewusst mit der Vorstellung einer oder eines isolierten, nur aus sich selbst schöpfenden Künstlerin oder Künstlers. Stattdessen beziehen sie ihnen nahestehende Menschen in ihre Arbeiten mit ein und überlassen ihnen die Kontrolle. Jordan Lord beispielsweise bringt in seinem Werk «I Can Hear my Mother’s Voice» seiner Mutter das Filmen bei und lässt sie die entstandenen Aufnahmen anschliessend kommentieren. Was nüchtern-beschreibend beginnt, wird immer persönlicher und emotionaler. Es stellt sich die Frage: Wem gehören die Geschichten, die so entstehen, wer ist hier Autor*in, wer Subjekt, wer kontrolliert die Narrative? Können wir die Erfahrung anderer überhaupt erlebbar machen oder ist der Versuch zum Scheitern verurteilt? Oftmals von Emotionen getragen, navigieren die Künstler*innen zwischen Erlebtem, Erinnertem und Interpretiertem.

Eine Woche nach dem Interview treffe ich Geraldine zum Fototermin. Nun stehen die Räume nicht mehr leer, sondern man muss sich vorsichtig einen Weg bahnen über Kabel und Bühnenelemente und vorbei an Getränkekisten, die schon für die Vernissage bereitstehen. «Auch beim Kuratieren muss man übrigens mit einem gewissen Kontrollverlust rechnen», schmunzelt Geraldine. «Von der ersten Anfrage an einen Künstler, bis dann alle Werke feststehen und hier ankommen, passiert so viel Unerwartetes! Vieles ist einfach nicht kontrollierbar und das kann natürlich auch Angst machen, aber ich liebe diese Herausforderung!»

Sabina Diethelm ist freischaffende Fotografin und Schreibende aus Winterthur und geniesst es, das Kulturangebot ihrer Wahlheimat Winterthur zu erkunden.

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