«Auch wenn ich das Rampenlicht von grossen Bühnen liebe, möchte ich die Strassenmusik auf keinen Fall aufgeben», sagt Ginny Loon bestimmt. Letztes Jahr trat die Winterthurerin Nadja Färber alias Ginny Loon unter anderem am Gurtenfestival, dem Openair St. Gallen oder dem Albanifest auf. Zwischen den grossen Auftritten musiziert sie immer wieder in den Gassen verschiedenster Städte – ausgestattet mit ihrer Gitarre, selbstgeschriebenen Liedern und einer Portion Abenteuerlust trägt sie ihre Musik in die Welt hinaus.
«Die Strassenmusik ist abwechslungsreich – kein Auftritt ist wie ein anderer», schwärmt die 28-Jährige. Damit begonnen hat sie zu Hause in der Schweiz. Die Arbeit als Flugbegleiterin, die sie eine Zeit lang ausübte, ermöglichte ihr bald die eine oder andere Auslanderfahrung – unter anderem in Montréal oder New York. Je nach Ort fallen die Reaktionen der Passant*innen ganz unterschiedlich aus: In kleinen Städten wie hier in der Schweiz bleiben die Menschen häufig stehen, um neuen Songs zu lauschen. «In grossen Metropolen mögen sie hingegen lieber Covers von Songs, die sie kennen», vergleicht Ginny ihre Erfahrungen. Auch wenn sie lieber ihre eigenen Lieder spielt, haben die touristischen Hotspots in internationalen Städten durchaus ihren Reiz. «Ich kann Leute von überall erreichen! Auch solche, die sonst vielleicht kein Konzert von mir besuchen würden», erzählt Ginny begeistert.
Die regelmässigen Auftritte an öffentlichen Plätzen helfen ihr, das Lampenfieber zu bändigen und Selbstbewusstsein aufzubauen. In ihren Songs finden alle Emotionen ihren Platz; sie singt von Trauer und Wut, von Heiterkeit und Mut. «Ich möchte in meinen Liedern ehrlich und offen sein. Sie sollen gerade jungen Frauen Halt geben und sie daran erinnern, dass sie mit ihren Gefühlen nicht allein sind», erklärt Ginny.
Dass sie in ihrem Leben vor allem Musik machen wollte, wusste die gelernte Detailhandelsfachfrau schon als Kind. Und doch gelangte sie erst über einige Umwege dorthin. Nach ihrem Lehrabschluss sah sie sich nicht weiter auf dem Beruf arbeiten und brauchte Veränderung. Sie trat eine zweite Ausbildung an, brach sie aber bald wieder ab und reiste für einen Sprachaufenthalt nach London. «Nach meiner Rückkehr in die Schweiz fand ich einfach keine Ruhe. Ich musste und wollte wieder weg!», erinnert sich Ginny. Kurzerhand packte sie ihre Siebensachen und stieg ins Flugzeug zurück nach London. Dort fand sie einen Job als Rezeptionistin. Dieser Sprung ins Ungewisse kommt der Sängerin rückblickend wagemutig vor: «Im Nachhinein frage ich mich, wie ich das alles so mühelos machen konnte. Aber es war genau das, was ich damals brauchte: alles loszulassen und mich frei zu fühlen.» Sie genoss das rege Treiben im Getümmel der Grossstadt. London wurde schnell zu ihrem zweiten Zuhause. Dennoch zogen sie ihre Verbundenheit zu Familie und Freund*innen nach zwei Jahren wieder zurück nach Winterthur. Inzwischen pendelt sie zwischen den beiden Städten hin und her: Ihre Musik produziert sie in London, während die meisten ihrer Konzerte in der Schweiz stattfinden. So sehr ihr die Anonymität der Millionenstadt gefällt, genauso schätzt sie die vertraute Atmosphäre und die bekannten Gesichter in den Strassen Winterthurs, wo auch viele Erinnerungen schlummern.
Besonders gern denkt sie an ihre Ausflüge an die Musikfestwochen zurück, die sie schon als kleines Mädchen mit ihrem Grossmami und später mit ihren Freund*innen unternahm. In ihrem Song «Bubbles» besingt Ginny die Lichterketten, die sich während dieser Tage über die Steibi spannten: «There’s a million little bubbles in the sky. It’s like each of them’s responsible for someone else’s smile.» – «Eine Million kleiner Kugeln schwebt am Himmel. Es scheint, als ob jede davon für jemandes Lächeln sorgt.»
Zwei Jahre nach der Entstehung dieses Songs erfüllte sich ein langersehnter Traum, als sie die Winti Night der Musikfestwochen eröffnen durfte. «Dieses Konzert war einer meiner Lieblingsauftritte», schwärmt sie. Doch gegen Ende des letzten Liedes brach ihre Stimme. Dies war nicht – wie das Publikum vielleicht vermutete – den überwältigenden Emotionen verschuldet, sondern weil Ginny zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Gesundheit zu kämpfen hatte: Schilddrüsenkrebs schwächte ihre Stimme und machte das Singen zu einer wachsenden Herausforderung. Das vergangene Jahr war geprägt durch die Krankheit und eine risikohafte Operation nahe an den Stimmbändern. «Plötzlich konnte ich gewisse Töne nicht mehr treffen, bei denen ich vorher überhaupt keine Schwierigkeiten hatte», musste sie feststellen. Der Traum vom Musikmachen hing in der Schwebe: «Ich wusste nicht, ob ich nach dieser Operation wieder singen können würde.» Dann die Erleichterung: Die Operation verlief gut. Die Unterstützung von Familie und Freund*innen verlieh ihr in Zeiten der Unsicherheit die nötige Zuversicht. Nach einigen Monaten Ruhezeit, die viel Geduld erforderten, ist Ginny zurück auf der Bühne und freut sich, wieder unbeschwert singen zu können: «Die letzten Monate haben mir gezeigt, dass auch das scheinbar Selbstverständliche zerbrechlich ist.»
Ihr neuster Song «Getting There» handelt von der Unbeständigkeit des Lebens und den unvorhersehbaren Geschehnissen, die alles schlagartig ändern können. Mit einem Augenzwinkern singt sie: «I thought I had it figured out in my head nicely, all planned out until the universe said ‹hold my beer, can’t be that simple getting there.›» Auf Deutsch: «Ich dachte ich hätte es herausgefunden, mir meine Pläne zurechtgelegt, bis das Universum sagte: ‹Halt mal mein Bier, das kann doch nicht so einfach sein.›» Auch wenn das Leben nicht immer geradlinig verläuft, unterkriegen lässt Ginny Loon sich nicht.
Belinda Lamatsch ist Autorin, Germanistik-Studentin und hört beim Lernen gerne Ginnys Musik, um sich zu motivieren.