Zwischen Haudrauf-Mentalität und stiller Tüftelei

Zwischen Haudrauf-Mentalität und stiller Tüftelei

Lange wusste sie nicht, was sie mit ihrem Leben machen will. Nun hat Julia Toggenburger ihren ersten Gedichtband veröffentlicht und tourt damit durch die Schweiz. Im Gespräch mit Maria Keller erzählt die Winterthurer Kulturschaffende von ihrem Werdegang und den Themen, die sie beschäftigen.

«sie pflügt / sät an / schaut zu / beim wachsen / spriessen, reifen / und gären»

Sie, das ist nicht etwa Julia Toggenburger selbst. Das Langgedicht «pflügen» handelt von einer Landwirtin und guten Freundin der Autorin und füllt die Hälfte ihres ersten Gedichtbandes «Nebelgrenze». Weitere Gedichte heissen «schattengewächs» oder «das rapsfeld und die zeit». Natur und Landwirtschaft, Leben und Tod, persönliche Abgründe und Fragen zur Gesellschaft - das sind wiederkehrende Themen in der Arbeit der 31-Jährigen. Die Winterthurerin schreibt Lyrik, experimentelle Prosa sowie Texte für die Bühne, liest live vor, ist Teil der Musikredaktion beim Radio Stadtfilter, probt mit ihrer Band Greatasstits und legt mal als Jag Jules oder DJ Coolia, mal im Duo Vakui Platten oder digital, mal Hits und mal Techno auf. 2021 erhielt sie den städtischen Werkbeitrag in der Sparte Literatur für ihren Text «der luchs steht am ufer und wartet».

«Winti ist einfach meine Hood», Julia kennt an jeder Ecke der Stadt jemanden und zögert nicht, bei «irgendeiner Furz-Idee» mal rasch zehn Leuten zu schreiben: «Dieses Netzwerk ist extrem wertvoll und cool.» Julia beschreibt sich selbst als extrovertiert und laut. Dass sie kein Blatt vor den Mund nimmt, das ist im Gespräch mit der Winterthurerin schnell spürbar. Ihr sei wenig peinlich, sie habe keine Angst, auf einer Bühne Seich zu erzählen. Diese Hemmungslosigkeit lebt sie vor allem als Sängerin ihrer Coverband Greatasstits aus. Beim Schreiben aber kommt eine andere Seite von ihr zum Vorschein: Hier ist sie still und tüftlerisch. Deshalb kann die Kulturschaffende mit Poetry Slam nicht viel anfangen. Die Kombination des Schreibens und ihrer Hau-drauf-Mentalität auf der Bühne gehören für sie nicht zusammen.

Schon als Kind hat Julia viel geschrieben. Meist erfand sie Geschichten à la Robinson Crusoe. Sie stellte sich vor, wie sie auf einer Insel oder fernab in einer Hütte selbstversorgend leben würde. «Ich merke gerade, dass diese Themen ja bis heute dieselben geblieben sind», sagt sie. Denn mit dem gesellschaftlichen und politischen System hatte sie schon immer Mühe und keine Lust, sich einzuordnen. Als Kind hatte sie eine blühende Fantasie und hätte fast von der Sek A in die Sek B absteigen müssen, weil sie in der Schule nur malte, erinnert sich Julia, die schlussendlich das Gymnasium absolvierte. Die Frustration über gewisse gesellschaftliche Strukturen kanalisiert sie mitunter in ihrem politischen Engagement. An einem Tag ist sie in Basel bei den Kleisterprozessen, am darauffolgenden zeichnet sie für das Radio Stadtfilter die Reden einer Kundgebung der Häuservernetzung Winterthur auf.

Laut Julia müsse sich in der heutigen Gesellschaft einiges ändern: Am liebsten wäre ihr die Abschaffung des Kapitalismus, des Patriarchats und die Einführung eines sich selbst verwaltenden anarchistischen Systems. Solange sie aber Teil des jetzigen Systems sei, versuche sie so zu leben, dass sie es mit ihren Werten vereinbaren könne: Gekauft wird nur das Nötigste und gewohnt wird zusammen mit neun Mitbewohner*innen und zwei Katzen. Zwischendurch lebte Julia auch schon allein in einer Dreizimmerwohnung: «Ich hatte die ganze Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich sowas ja nicht brauche.» Manchmal wird sie traurig oder wütend, wenn sie sich vor Augen führt, was ihrer Meinung nach alles falsch läuft. Doch diese Emotionen will sie nutzen, um zu kämpfen, anstatt abzustumpfen. Die andere Option wäre, aus dem System auszubrechen: «Ich überlege mir oft, Landwirtin zu werden. Nur weiss ich nicht, ob dies eine konsequente Umsetzung meiner Ideologie oder vielmehr eine Flucht wäre», wägt Julia ab.

Klar war aber schon früh: Julia ist gut darin, ihre eigene Chefin zu sein. Es liegt ihr, ihr eigenes Ding zu machen und mehr als 70 Prozent will sie auf keinen Fall arbeiten, ausser in der Landwirtschaft, wo es kaum anders gehen würde. Sie findet das System der Lohnarbeit «ziemlich idiotisch». Ihr Ziel ist es, vom Schreiben leben zu können, ohne dabei andere Projekte wie ihre Band aufgeben zu müssen. Zumindest im finanziellen Bereich ist sie glücklicherweise kein Sorgenmensch: «Ich weiss, dass ich mit sehr, sehr wenig auskommen kann.»

Bevor Julia zum Schreiben fand, wusste sie lange nicht, was sie tun wollte. Sie arbeitete in der Sahara-Bar, der heutigen Thurbinä. Auch begann sie zweimal ein Studium an der Universität Zürich, in den Richtungen Deutsch und Geschichte beziehungsweise Islamwissenschaft, welche sie aber beide abbrach. Sie sei eben keine Akademikerin: «Ich habe gemerkt, dass ich all das Zeug gar nicht lesen will, sondern lieber etwas Eigenes schreibe.» Mit der Aufnahme an das Schweizer Literaturinstitut in Biel im Jahr 2018 ist somit eine schwierige Zeit für Julia zu Ende gegangen: «Davor wusste ich nicht, was ich machen soll und wo ich hingehöre.»

Im Studium hat sich Julia vertieft mit Lyrik auseinandergesetzt und ihren Stil gefestigt. Typisch für sie sind lange lyrische Texte, die oft von einem klaren Rhythmus geprägt sind. Das konnte man auch Ende Januar am Monomontag im Portier hören, als Julia Auszüge aus «Nebelgrenze» vorlas. Gemeinsam mit Omar Fra und Dimitri Käch, welche die Lesung als Garden in Time musikalisch umrahmen, ist sie zurzeit auf Lesetour, als nächstes an den Solothurner Literaturtagen Ende Mai. Für ihren Stil lässt sie sich vor allem von der Arbeit ihres Idols Levin Westermann inspirieren. Mit dem deutschen Lyriker arbeitet sie gerade für ein Jahr im Rahmen eines Mentorats des Migros-Kulturprozent zusammen.

Während ihre Lyrik ausschweifend sein mag, handelt Julia im Gespräch einige Themen schnell ab: In Winti treffe man sie am ehesten im Gaswerk, beim Tanzen im Kraftfeld oder an Konzerten. In Cafés oder Bars sei sie hingegen selten: «Kaffeetrinken kann ich ja auch zuhause.» Lieblingsbücher habe sie mehrere, zum Beispiel «Pilger am Tinker Creek» von Annie Dillard. Spotify? Nope. Tinder? Ekelhaft. Und Julias Lieblingswitz? Treffen sich zwei Jäger*innen – beide tot.

Maria Keller ist Autorin beim Coucou und auf einem Bauernhof aufgewachsen.

Leylah Fra ist Teil des Musikbüros Rote Fabrik, Bassistin und fotografiert leidenschaftlich gern.

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