Zwei Stufen führen von der Steinberggasse in das Innere der Polsterwerkstatt Mink, die Leonie Steiner seit Juli 2020 ihr Eigen nennt. Zwei Stufen sind es, die Leonies Arbeitsplatz vom Lieblingsort vieler Winterthurer*innen – sie miteingeschlossen – trennen. Zwei Stufen, die in ihrem Leben sinnbildlich für die Trennung zwischen Arbeit und Freizeit stehen. «Einen besseren Ort zum Arbeiten kann ich mir nicht vorstellen», schwärmt sie.
Vor fast drei Jahren hat Leonie die Polsterwerkstatt von ihrem Vorgänger Thomas Mink (Coucou N°76) übernommen. Schon während ihrer Ausbildung hatte sie der Gedanke begleitet, irgendwann eine eigene Polsterei zu besitzen. Nach ihrer Lehre als Innendekorateurin (heute: Raumgestalterin) mit der Fachrichtung Polstern hatte sie die Berufsmaturitätsschule (BMS) begonnen. Parallel dazu arbeitete sie im Teilzeitpensum in ihrem Lehrbetrieb, einem Raumgestaltungsunternehmen im Thurgau, weiter. Zu dieser Zeit erzählte ihr ein Freund, der über der Polsterwerkstatt Mink wohnte, dass deren Besitzer eine Nachfolge suche. Bald darauf besuchte Leonie diesen in seiner Werkstatt. «Es hat einfach gepasst», erzählt sie über ihre erste Begegnung mit Thomas Mink. Die beiden verstanden sich auf Anhieb gut und hatten ähnliche Ideen für die Weiterführung der Polsterwerkstatt. Und doch verging zwischen dem Besuch und Leonies endgültigem Entschluss ein Jahr. Während Thomas Mink in dieser Zeit über seine Pension hinaus arbeitete, holte sich Leonie Rat aus ihrem Umfeld und stellte sich viele Fragen: Will ich selbstständig sein? Komme ich finanziell durch? Wäre eine Fachhochschule als Innenarchitektin nicht auch eine Option? Im Wissen um die Unterstützung von Familie und Freund*innen und mit einen Budgetplan, der «verhebt», kaufte sie schliesslich das Geschäft.
Von aussen hat sich die Polsterwerkstatt Mink seither nicht gross verändert: Zwar hat Leonie ein neues Logo gezeichnet, dessen Farbe etwas satter ist als jene des alten, doch den Namen hat sie behalten. Auf die Frage, warum sie ihn nicht geändert hat, antwortet sie: «Mink gehört einfach zu Winti.» Ins Innere der Polsterwerkstatt hat Leonie umso mehr Arbeit gesteckt. Sie hat die Decken- und Wandverkleidung rausgerissen und das Inventar ausgemistet, das sie – wie ihren Kund*innenstamm – grösstenteils von ihrem Vorgänger übernehmen konnte.
In einem Wandregal im vorderen Teil der Werkstatt, der zugleich auch als Laden dient, stapeln sich Stoffmuster. Gegenüber befindet sich eine Werkzeugkommode aus Holz sowie ein kleiner Tisch. Einen Grossteil der Fläche beim Schaufenster nutzt Leonie aber für die Möbel, an denen sie arbeitet: Ein Sofa thront auf zwei Holzböcken, am Boden steht eine Récamiere. Im schmaleren hinteren Teil der Werkstatt befinden sich weitere Regale, ein grosser Zuschneidetisch, ein Lavabo sowie zwei Industrie-Nähmaschinen. Über einer davon hängt ein Kalender mit einem halbnackten Mann. «Dort, wo ich früher gearbeitet habe, gab es immer nur Werkzeugkalender mit Frauen. Für meine Werkstatt wollte ich unbedingt einen Männerkalender haben», erklärt die Handwerkerin und schmunzelt.
Ihre Freude an der Arbeit mit den Händen entdeckte Leonie bereits früh. Sie wuchs in einer kreativen Familie auf, in der viel gebastelt und gewerkelt wurde. Bei ihrer Arbeit als Polsterin kommt ihr das zugute, denn oft ist handwerkliches Geschick und Kreativität gefragt. Um ein Möbelstück neu zu polstern, muss sie es bis aufs Gerüst ausziehen. Dabei kommen manchmal lang vergessene Gegenstände zum Vorschein. Zu ihren besonderen Funden gehören ein uraltes Busbillett sowie ein Goldvreneli, das ihr die Besitzerin dann sogar schenkte. Oft seien es aber weniger aufregende Dinge wie Bauklötze oder ein bisschen «grusige» Sachen.
Erst wenn Leonie das Skelett eines Möbels vor sich hat, kann sie dessen Zustand prüfen. Ist etwas kaputt, muss sie es reparieren. Wenn das Grundgerüst intakt ist, kann sie mit ihrer eigentlichen Arbeit beginnen: Für eine neue Polsterung schichtet sie mehrere Lagen verschiedener Materialien aufeinander. Je nach Kund*innenwunsch sind es Möbelfedern, Kokoshaar oder Schaumstoff. Zum Schluss überzieht sie das Möbel mit dem gewünschten Stoff. Manchmal wechselt sie auch nur den Stoff aus, näht Kissen oder fertigt Plissees an. Für die neue Polsterung eines Sofas benötigt sie etwa 35 Arbeitsstunden. «Ich bin eine ‹Tüpflischisserin›. Das braucht viele Nerven. Manchmal gibt es Momente, in denen ich kurz denke: ‹Scheisse, das kann ich nicht›», sagt sie. Diese verflögen aber spätestens nach einem Gespräch mit ihrem Lehrmeister oder Thomas Mink. Zu letzterem pflegt sie immer noch einen guten Kontakt und er schaut gelegentlich bei ihr im Laden vorbei.
Wegen solchen Besuchen fühlt sich Leonie, die allein in der Werkstatt arbeitet, nie einsam. Ihr Geschäft in der Steibi ist mitten im Geschehen: «Ich bin ständig im Austausch mit Menschen.» Sie berät Laufkundschaft im Laden oder beantwortet das Telefon. Oft winken ihr Freund*innen im Vorbeilaufen zu oder setzen sich für eine gemeinsame Kaffeepause auf die zwei Stufen vor ihrem Laden. Diese unterhaltsamen Unterbrechungen erfordern aber auch Selbstdisziplin: Leonie beginnt ihre Arbeitstage oft um 7 Uhr. Die Zeit bis zur Ladenöffnung um 10 Uhr sowie den Montag, an dem die Polsterei geschlossen ist, nutzt sie für konzentriertes Arbeiten oder Möbeltransporte. «Ich arbeite mehr als zuvor. Es macht mir aber auch mehr Freude, weil es mein eigenes Geschäft ist.» Und das Geschäft läuft gut: Bis im Winter 2023 ist sie ausgebucht. Weitere Aufträge warten in Form einer Warteliste mit einem Dutzend Namen auf sie.
Anfangs fiel ihr das Neinsagen schwer. Mittlerweile hat sie sich jedoch damit abgefunden, Kund*innen vertrösten zu müssen. «Viele warten, das ist schön» sagt die bald 27-Jährige, «denn mehr arbeiten kann ich wirklich nicht.» Ihre rar gewordene Freizeit verbringt sie gerne an FCW-Spielen. Oder eben bei einem Feierabendbier in der Steibi. Von dieser ist sie zum Glück nur zwei Stufen entfernt.
Amina Mvidie ist Coucou-Redakteurin.
Julien Felber ist Fotograf und mit Leonie seit mehreren Jahren befreundet.