Am Boden des Kulturhauses Helferei in Zürich liegt ein langer Baumwollschlauch. Aus dem einen Ende ragen zwei Beine von Audrey Wagner, aus dem anderen der Oberkörper von Linda Heller. «Hallo und herzlich willkommen zu meinem neuen Video», sagt eine Stimme aus dem Off. «Heute zeige ich euch, wie ich ‹die› perfekten roten Lippen schminke», spricht sie weiter. Das Wesen auf dem Boden dreht und wendet sich, posiert und lächelt.
RED ist ein eigens konzipiertes Stück über Selbstdarstellung in den sozialen Medien, Identität und den Kampf gegen kulturelle Zuschreibungen von Geschlechterrollen. Es thematisiert die Ansprüche, welche die Gesellschaft an Körper – vor allem an Frauenkörper – stellt. «Wir haben uns irgendwann in ein Tuch gewickelt, um die absurden Erwartungen an die Länge von Frauenbeinen darzustellen», erklärt Choreografin und Tänzerin Audrey Wagner.
Für das Choreografieren setzt sich Audrey jeweils intensiv mit einem Thema auseinander. Dann übersetzt sie den Inhalt in die passenden Bewegungen und probiert aus, was funktioniert und was nicht: «Was überhaupt nicht geht, ist, über Feminismus zu tanzen und dann drei Pirouetten zu drehen.» Sie geht die Thematik vielschichtiger an: Wie nimmt man Raum ein? Wie bringt man mit Tanz Kritik an? Wie wehrt man sich gegen Erwartungen, die an Körper gestellt werden? «Wir haben nicht den Anspruch, dass die Zuschauer*innen das Stück eins zu eins verstehen – im Gegenteil, es ist umso spannender, wenn Menschen ganz unterschiedliche Dinge darin lesen und wahrnehmen.»
Audreys Tanzkarriere begann vor etwas mehr als zwanzig Jahren mit Ballett. Ihr grosses Vorbild: Arman Grigoryan, damals Tänzer am Opernhaus. Ohne Tutu oder anderen Schnickschnack schwebte dieser über den Boden und drehte endlos Pirouetten: «Ich wusste: So will ich auch tanzen können», erinnert sich Audrey. Der Weg dahin war nicht immer einfach: «Ab und zu gab es die Möglichkeit, vor einer Jury vorzutanzen, die unsere ‹Balletttauglichkeit› bewertete. Mir wurde klar gesagt, dass ich die körperlichen Anforderungen nicht mitbrachte. So war zum Beispiel die Aussenrotation meiner Hüfte zu klein», erzählt Audrey.
Unterkriegen liess sich die unterdessen 31-Jährige davon nicht. Sie tanzte weiter Ballett, Jazz und Modern. Während der Matura ging sie nach London und Lausanne, um vorzutanzen. Und spürte dabei einmal mehr die Härte der Ballettwelt: Ohne den «perfekten» Körper sei es teilweise gar nicht möglich gewesen, sich nur schon für das Vortanzen einzuschreiben: «In London habe ich sogar in Bezug auf meine Körpergrösse gelogen – ich bin 1,61 Meter gross, hätte aber 1,65 sein müssen», meint sie. «Normen werden im Ballett sehr klar kommuniziert – einerseits in Vorgaben bezüglich der Körpergrösse, andererseits werden auch Gewicht, Brüste und Bauch genauestens angeschaut. Fällt man aus dem Raster, kann es sein, dass man trotz guter Fähigkeiten nicht genommen wird.»
Nach dem Vortanzen machte Audrey ein Zwischenjahr, fokussierte mehr auf Jazz und Modern, und «schloss ein wenig ab mit der Ballettwelt», wie sie sagt. Im Herbst 2011 begann sie ein Studium an der Pädagogischen Hochschule. Gegen Ende der Ausbildung zur Primarlehrperson tanzte sie nochmals vor, ohne angenommen zu werden. Langsam gab sie ihr Ziel auf, Tänzerin zu werden. Stattdessen übernahm sie eine Primarschulklasse, welche sich als sehr anspruchsvoll herausstellte. «Ich schlief nicht mehr gut, weil mich die Situation im Klassenzimmer sehr stark belastete», erzählt sie. Kurz vor dem Burn-out zog sie die Notbremse und kündigte. Im Frühling 2016 ging sie kurzerhand nochmals vortanzen, diesmal an der Höheren Fachschule für Zeitgenössischen und Urbanen Bühnentanz (HF ZUB) in Zürich. Ohne grosse Erwartungen. «Ich habe es damals auch niemandem gesagt», sagt Audrey. Prompt wurde sie angenommen.
Mit 24 stürzte sie sich in ihr Vollzeit-Tanzstudium und betrieb während sieben Stunden täglich Hochleistungssport. «Danach kommst du nach Hause und kannst vor Erschöpfung kaum mehr denken», erinnert sie sich. Gleichzeitig war sie endlich dort angekommen, wo sie schon immer hinwollte: «Es war das Schönste überhaupt, den ganzen Tag tanzen zu können.»
2019 schloss sie die HF ZUB ab. Nach dem Abschluss nahm sie jeden Auftrag an, der etwas mit Tanz zu tun hatte. Sie zog von Zürich nach Winterthur und stürzte sich mit einer Vielzahl neuer Ideen in die lokale Tanzszene. Gemeinsam mit elf ehemaligen Mitstudent*innen gründete sie das Kollektiv «Merge Dance Collective»: «Wir wollten uns in verschiedenen Bereichen gegenseitig stärken», erzählt Audrey. Sie reichten sich gegenseitig Angebote weiter, klärten Fragen rund um die Selbstständigkeit und Finanzen und hatten gemeinsame Tanzaufführungen: «Ich erinnere mich, wie wir teilweise zu fünft für 120 Franken getanzt haben.»
Unterdessen hat sich einiges geändert, die Veranstalter*innen offerieren zu besseren Konditionen. Die harte Arbeit bleibt. Audrey ist es wichtig, sich für die Tanzszene einzusetzen. In der freien Szene tanzt sie zwar nicht so viel, wie wenn sie fest an einem Haus angestellt wäre, dafür bleibt ihr mehr Zeit für andere Leidenschaften und Jobs: Sie ist Co-Leiterin des Tanzfestivals Winterthur und organisiert im Rahmen von «Kunst im Depot» den Pop Up Dance Space, einen offenen Raum für Kreation von Tanz- und Kunstschaffenden. Nebenbei engagiert sie sich für den Verein tanzinwinterthur, unterstützt die Organisation des Tanzfests Winterthur und gibt Tanzunterricht im Tanzstudio aha!. Dazu kommt die Nachwuchsförderung: Parallel zur Erarbeitung ihrer eigenen Solo-Stücke coacht sie junge Tanzschaffende bei der Kreation ihrer Tanzstücke. So viel Engagement für die Tanzszene blieb nicht unerkannt – 2022 erhielt Audrey den Förderpreis der Stadt. Teilweise in bis zu 15 Projekten gleichzeitig involviert zu sein klingt anstrengend – und ist es auch. Es gibt Audrey aber viel Energie. «Ich bin ein Workaholic», meint sie und lacht. Und düst gleich wieder los zum nächsten Meeting.
Hanna Widmer verbringt ihr Leben zwischen Literatur, Musik und Klassenzimmer.
Milad Ahmadvand ist Fotograf aus Winterthur.