Sie ist gleichermassen grotesk wie faszinierend – und deshalb die ideale Geschichte. Menschen in meist prekären Lebensumständen melden sich für ein wenig Verdienst als Statist*innen bei einer Kriegssimulation der Nato. In einem Militärcamp nehmen sie für drei Wochen die Rolle von Zivilist*innen ein und versuchen, das Leben zu spielen. Als «civilians on the battlefield» sollen sie den Soldaten ein realistisches Übungsszenario bieten. «Zivilisten» heisst dieses Spielfilmprojekt von Jan-Eric Mack, das auf wahren Begebenheiten in Süddeutschland beruht, und es vereint vieles davon, was dem freischaffenden Regisseur und Drehbuchautor in seinen Filmen wichtig ist. Politische Fragen, die im Kleinen verhandelt werden, ein «bestechendes Setting» und ein universelles Thema. Im Film geht es um die Würde des Menschen, versehen mit einer komödiantischen Komponente, dem Tragisch-Komischen, was Jan-Erics Arbeit oft auszeichnet. «Das Tragische und das Komische liegen oft nahe beieinander», sagt der 38-Jährige. «Ich brauche beide Perspektiven, um das Leben zu beschreiben.»
Diese beiden Blickwinkel finden sich auch in «Facing Mecca», dem Kurzfilm, mit dem Jan-Eric 2017 sein Masterstudium an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) beendete und der ihn in die professionelle Filmwelt katapultierte. Ein syrischer Geflüchteter möchte seine Frau in der Schweiz nach muslimischem Brauch begraben – und stösst dabei auf bürokratische Hindernisse. «Facing Mecca» basiert auf einer wahren Geschichte zur Zeit der Migrationskrise 2015. «Die betroffene Gemeinde setzte einen Geomatiker ein, welcher die Möglichkeiten einer muslimischen Bestattung untersuchen sollte. Den Tod vermessen und in ein Regelwerk pressen zu wollen, dies schien für uns das perfekte Bild, um die damalige Schweizer Asylpolitik darzustellen.» Im Zentrum der Geschichte steht aber nicht die geflüchtete Familie, sondern ein Schweizer Pensionär, der unfreiwillig zum Helfer wird. Jan-Eric interessiert, was die Menschen im Innersten bewegt – ihre Hoffnungen, Träume und Abgründe. Und welche Rolle dabei das demographische Umfeld spielt. Die Ideen kommen ihm durch das Verfolgen des Weltgeschehens in Zeitungen, Büchern, im Austausch mit seinem Umfeld und seiner Partnerin Anna Schinz, die als Schauspielerin und Drehbuchautorin ebenfalls in der Filmbranche tätig ist. Mit ihr schrieb er auch das Drehbuch zu «Facing Mecca». Der Film gewann zahlreiche internationale Preise, darunter den «Student*innen-Oscar» Student Academy Award und den Schweizer Filmpreis. Auf den Erfolg des Kurzfilms folgte die Anfrage zur Co-Regie bei der zweiten Staffel der erfolgreichen Krimiserie «Wilder». 2019 übernahm Jan-Eric die Regie bei der dritten Staffel.
Vor all dem kreierte Jan-Eric, der in Winterthur aufwuchs, Plakate und Flyer für das Winterthurer Musiklabel Tensionstate. Später besuchte er den gestalterischen Vorkurs und absolvierte eine Lehre als Grafiker. Nach vier Berufsjahren entschied er sich mit 26, seiner zweiten Passion nachzugehen und an der ZHdK Film zu studieren. Durch das Studium verschob sich Jan-Erics Lebensmittelpunkt nach Zürich. Prägend waren für ihn die Kurzfilmtage, an denen fünf seiner Kurzfilme gezeigt wurden. In Winterthur sei er auch heute noch oft, bei der Familie oder für kulturelle Anlässe. «Dabei fällt mir jedes Mal wieder auf, wie laid-back Winti ist.»
Gelassen wirkt auch Jan-Eric selbst. Das Einzige, womit sein Gegenüber ihn wirklich auf die Palme bringen könne, sei Ignoranz und Egoismus. Das kauft man ihm sofort ab. Keine Spur vom Klischee des exzentrischen Regisseurs, der am Set durchs Megafon schreit. «Inhalt ist wichtiger als Lautstärke», findet Jan-Eric. Der gegenseitige Respekt auf dem Set trage viel zur Stimmung bei und Ruhe sei ein Mittel, um konzentriert arbeiten zu können und den Schauspieler*innen den Raum und das Vertrauen zu bieten, die sie bräuchten. «Ich glaube, ich habe das nötige Gespür für Menschen, Sprache und Rhythmus, das es für diesen Beruf braucht», sagt er. Dazu komme der «innere Motor», sein endloser Drang, den Dingen auf den Grund zu gehen.
Er sei ein ziemlicher Workaholic, sagt Jan-Eric. «Im Normalfall werde ich symptomatisch krank, wenn ich ein paar Tage frei habe. Idiotisch.» So war es die letzten vier Weihnachten. Aber er müsse einfach immer etwas tun. Die einzige Aufgabe, die er momentan gerne abgeben würde, das seien die Wäscheberge bei ihm zuhause. «Mit Kindern kommt man einfach nicht mehr nach.»
Auf seinem Unterarm hat Jan-Eric Moby Dick tätowiert. Ihn fasziniere die literarische Figur, die unglaublichen Kräfte, die dieser Wal im Menschen freisetzt, und deren Deutung eine Vielzahl an unterschiedlichen Perspektiven auf das Leben ermöglicht. Auch möge er an Melvilles Jahrhundertroman die detailtreue Erzählweise. «Ein Film ist für mich dann gut, wenn er bei mir etwas hinterlässt, woran ich noch Jahre später zurückdenke.» Einer der ersten Filme, der dies beim Filmemacher erreichte, war «Amarcord» von Federico Fellini. Er sei schon immer ein Fan des italienischen Kinos gewesen, sagt Jan-Eric. Fellini habe mal gesagt, es wäre ihm egal, wenn es auf dem Filmset keine Kameras gäbe, denn die Liebe am Prozess des Filmemachens stehe über dem Endergebnis, das auf die Leinwand projiziert wird. Er erkenne sich selbst in diesem Zitat wieder, sagt Jan-Eric. Was ihn bei den eigenen Arbeiten interessiere, sei nicht allein das fertige Produkt, sondern die intensive Auseinandersetzung mit einem Thema über so viele unterschiedliche Phasen hinweg: das Verfassen des Drehbuchs («einsame Knochenarbeit»), die Vorproduktion, bei der verschiedene Departemente aufeinandertreffen und bei der man als Team eine gemeinsame Vision entwickelt, die intensive Arbeit mit den Schauspieler*innen beim Dreh und schliesslich die Montage, bei der ein Film geboren wird. Diese Vielschichtigkeit und Komplexität seien es, die das Filmemachen für ihn so reizvoll machen. Sein Lieblingsprojekt sei immer das, woran er gerade arbeitet.
Es überrascht nicht mehr, wenn Jan-Eric sagt, dass der Film seinen Alltag dominiert. Er und seine Partnerin Anna seien im ständigen Austausch miteinander und er bezeichnet sie auch im Beruf als seine zweite Hälfte. Aktuell schreibt die 35-jährige Schauspielerin an einem gemeinsamen Spielfilm, der das Thema Armut in der Schweiz aufgreift. Vor zehn Monaten kam das zweite Kind des Paars zur Welt. Auch wenn der ältere Sohn gerade ein Kindertheater besuche, so meint Jan-Eric scherzhaft, sähen sie die gemeinsamen Kinder als ihre dritte Säule und hofften daher auf eine Karrierewahl ausserhalb des Kunstbereichs.
Neben der Familie und seiner Leidenschaft, welche sich Jan-Eric zum Beruf gemacht hat, bleibt nicht mehr viel Zeit für anderes. Zwar wagte er sich nach sieben Jahren Pause wieder aufs Skateboard, das endete aber mit einem Kieferbruch. Er würde gerne wieder mehr ins Kino und Theater, an Ausstellungen, vermehrt lesen und zeichnen. Aktuelle Lektüre: «Der Zauberberg» von Thomas Mann. Auch hier im Zusammenhang mit einem neuen Serienprojekt. «Zurzeit stecke ich mitten in der Vorbereitung zu ‹DAVOS›, einer historischen Spionageserie, welche zur Zeit des Ersten Weltkriegs spielt.» Die Dreharbeiten der Deutsch-Schweizer Koproduktion für das Schweizer Fernsehen und die ARD starten im September. Künftig wolle er ausserdem wieder mehr Experimente wagen und nicht in strengen Formen verharren. Mal ein Theaterstück auf der Bühne inszenieren, das wäre auch was, fügt er beim Verabschieden noch hinzu. Oder einen Sci-Fi-Film im All! «Never lose your childish enthusiasm – and things will come your way», meinte Fellini einst.
Maria Keller ist Autorin beim Coucou und bestellt im Kino am liebsten salzig-süss gemischtes Popcorn.