1. Wie kommen wir zu Vitodura?
«Herzlich willkommen im ersten Artikel der diesjährigen Dezember-Ausgabe vom Coucou. Vor sich sehen Sie ein Heft, in dem es um Lokalpolitik geht. Wir beginnen mit einem Porträt der hiesigen Stadtgöttin, Vitodura … Was diese mit Politik zu tun hat, fragen Sie? Berechtigt! Nun, obwohl der Name es vermuten lassen könnte, handelt es sich bei Vitodura nicht um eine Göttin der antiken Mythologie. Ihr Name leitet sich zwar von ‹Vitudurum› ab, in Existenz gerufen und aus Sandstein gemeisselt wurde sie aber erstmals 1869, als es an der Zeit war, dem neu erbauten Stadthaus die krönenden Giebelfiguren aufzusetzen … Ja, krönend. Bis dahin hatte die Stadtkirche als Versammlungsort der Bürger gedient; der Stadtverwaltung mangelte es an Büros; rund um die heutige Altstadt wurden neuartige, kommunale Bauten wie Schulen und Turnhallen errichtet. Der Architekt und Bautheoretiker Gottfried Semper wollte mit dem Stadthaus nichts weniger als einen ‹Tempel der Demokratie› schaffen – hübsch, oder? … Ja, der klassizistische Stil … hach, die Treppen … das Dach … äh, wo war ich? Genau, die Demokratie. Semper sah unspezifizierte Giebelfiguren vor, sie hatten einen formal-ästhetischen Zweck zu erfüllen, waren Teil des Gesamtkunstwerks. Als das Baukollegium verkündete, dass Figuren nicht im Rahmen des finanziell Möglichen liegen würden, griff der Kunstverein Winterthur ein. Rasch waren genug private Geldgeber gefunden, denn, nun ja – Geld und Kunst, Sie wissen schon. Öffentlichkeitswirksame Entscheidungen und so, das Aufblühen der Industrie und das Mäzenatentum, damals … ja, schlimm, diese Abhängigkeit vom guten Willen einiger weniger, oder? Die Verhältnisse früher, die Verteilung der Güter. Gut, gut … Nun, wo waren wir? Die Giebelfiguren wurden realisiert: vier Greifen als Wächter der Demokratie; auf der Nordseite Athene, die Göttin der Städte, des Kriegs und der Weisheit; auf der Südseite Vitodura, als Sinnbild für die aufstrebende Wirtschaft Winterthurs. Eine Gottheit der Moderne also. Nachempfunden sei sie der Tyche, der griechischen Göttin des Glücks und Schicksals. Schauen Sie: die Mauerkrone, die selbstbewusste Haltung, das Füllhorn. Hier und dort heisst es, dass nicht Tyche Vitodura Patin gestanden habe, sondern Nemesis, die Göttin des gerechten Zorns … Was vielleicht erklären würde, warum Vitodura so positioniert wurde, dass sie Richtung Südwesten blickt, in Richtung der Stadt Zürich, mit der Winterthur damals in starker Konkurrenz stand … aber, hm, ob da wirklich was dran ist …» Die Betrachtung dessen, was gewesen ist, das Zusammentragen des Erzählten – das wäre mal eine Möglichkeit, sich Vitodura anzunähern. Aber würde diese Momentaufnahme ihr gerecht werden?
2. Wie kommt Vitodura zu uns?
Müsste man nicht auch in Betracht ziehen, was seither mit ihr geschehen ist? Wenn wir Vitodura mit der Skulptur von 1869 gleichsetzen, so lässt sich diese Frage schnell beantworten: Alle sechs Figuren wurden 1915 aufgrund von Verwitterung abgenommen und aus finanziellen Gründen nicht ersetzt. Die Frage nach neuen Skulpturen wurde Anfang der 1930er-Jahre, als das Stadthaus erweitert wurde, aufs Neue gestellt, erhielt als Antwort aber einen negativen Entscheid – genauso wie 1992, als ein Renovierungsprojekt geplant war, aus finanziellen Gründen aber auf unbestimmte Zeit verschoben wurde. Als Säulenteile herunterzufallen begannen, wurde 2002 das Projekt von der Stadt Winterthur neu aufgegriffen, doch auch dieses Mal waren die Giebelfiguren aus – genau – finanziellen Gründen nicht umsetzbar. Der Architekt Johann Frei, der zwischen 2003 und 2007 Aussenrenovationen am Stadthaus ausführte, gründete daraufhin zusammen mit dem Bildhauer Georg Frehner den Förderverein «Stadthaus Semper Winterthur» – mit dem Ziel, das Gebäude nach den Plänen Sempers zu erhalten. In Zusammenarbeit mit dem Verein «Idee2» ermöglichten sie dank privater Spendengelder die Wiederherstellung aller sechs Giebelfiguren. Ja, Winterthurs Stadtgöttin, ihr abstraktes mythologisches Gegenstück und die vier Wächter der Demokratie wurden beide Male von privaten Geldgeber*innen bewirkt. Keine Pointe. Seit 2005 steht eine neue, zweite Vitodura auf dem Südgiebel des Stadthauses. Ein Greif links und rechts, Athene im Rücken. Die Augen auf den Horizont gerichtet.
3. Wo beginnt die Stadt?
Vielleicht wäre für diesen Text über das – quasi – Stadtgöttliche aber etwas Konkretes angebrachter gewesen, deshalb: Sag mal, woran erkennst du, dass du dich in Winterthur befindest?
Diese Frage mag wie ein Witz daherkommen (Pointen gäbe es genug), ist aber durchaus ernst gemeint. Was in deiner Umgebung bedeutet für dich «Winterthur»? Sind es die Gegenstände in deiner Wohnung, die du «deine» nennst und von denen du nicht willst, dass der orange Müllwagen sie holen kommt? Sind es die vertrauten Geräusche im Haus, der Lichteinfall von aussen, anhand derer du dich verortest? Oder ist es eher der Blick aus dem Fenster, das, was du draussen siehst? Zum Beispiel der Bus Richtung Rosenberg, der Dampf der KVA am Himmel, der Goldenberg am Horizont?
In poetographischen Zirkeln würden die erstgenannten Beispiele als sutje gelten – da sie persönlich sind, eine anekdotische Qualität haben. Die letzteren wären suave: Sie thematisieren die Stimmung eines Ortes und sind mit der Hoffnung verknüpft, dass seine Stimmung allgemein so empfunden wird. Aber die Grenze zwischen diesen Zuschreibungen ist nicht fix. Wie könnte sie das auch sein? Momente, in denen das Leben der Allgemeinheit in das «eigene» hineinfällt, gibt es zur Genüge: die Stimmen der Nachbar*innen, das Licht der Strassenlaternen, ein öffentliches Gebäude vor dem Fenster. Handkehrum kann es aufschlussreich sein, genau die Orte aufzusuchen, die für die Allgemeinheit gebaut wurden – insbesondere die, zu denen man hochblicken muss, um sie überhaupt erst zu bemerken. Und wenn man dann so hochblickt, hört man in sich die Frage laut werden: In welcher Beziehung steht das «eigene» Leben zur Allgemeinheit?
ZUSATZINFOS
Vitodura gibts unter anderem auch als Buchstütze und aus Schokolade beim Verein «Idee2» zu kaufen: www.vitodura.ch
In Person begegnet man ihr beim Frauenrundgang, wo sie aus 750 Jahren Stadtgeschichte erzählt: www.frauenrundgang.ch
Und für ein Tête-à-Tête positioniert man sich am besten an der Stadthausstrasse 35/7 – und stellt sich auf Nackenstarre ein.
Aleks Sekanić ist Autorin und Redaktorin beim Coucou und erfreut sich am Anblick hochgewachsener Föhren und der Pünten entlang der Töss.
Mina Monsef ist Fotografin aus Zürich und arbeitet im Bereich der Porträt- und Reportagefotografie.