Stillsitzen ist ein Fremdwort für Merly Knörle. Die 48-Jährige sprüht vor Energie und Charisma, wenn sie erzählt. Derzeit fliessen Energie und Ideen vor allem in ein Mammutprojekt. Ab Oktober übernimmt sie quasi im Alleingang das Kulturhaus Villa Sträuli, stemmt Programmplanung und Finanzierung und kümmert sich um die Artists-in-Residence, die jeweils für ein paar Monate in einer der Atelierwohnungen verbringen. Seit über einem Jahr schon läuft die Vorbereitung. Merly entwickelt Konzepte, gleist Konzerte auf und kommuniziert mit der halben Welt. Und doch gibt es bis zur Eröffnung noch einen Berg Arbeit. Den sieht sie allerdings weniger als Hürde, sondern eher als Herausforderung. Und wenn man ihr zuhört, wird es einem im Nullkommanichts klar: Das ist der perfekte Job für diese Frau.
Aufgewachsen in einer Familie von Wissenschaftler*innen in Kuba, war für Merly schon früh klar, dass ihre Leidenschaft die Kunst ist. «In der Primarschule hatte ich einen unglaublich inspirierenden Literaturlehrer», erinnert sie sich. Literatur und Kunst hatten in der Schule – wie in vielen sozialistischen Ländern damals üblich – einen hohen Stellenwert. «Im Unterricht lasen wir Literatur- und Theaterklassiker. Anschliessend haben wir immer diese Stücke im Schultheater aufgeführt – in «Fuente Ovejuna» von Lope de Vega durfte ich sogar die Hauptrolle spielen. Ziemlich magisch!», erzählt sie. Im Zentrum des Unterrichts stand, die Kreativität zu fördern – und das Interesse an den beiden Disziplinen zu wecken.
Ausserdem interessierte sie sich für Kunstgeschichte, spielte weiterhin Theater – und versuchte, in eine Schauspielschule einzutreten. Die Aufnahmeprüfung bestand sie jedoch nicht. Ein Wink des Schicksals, meint Merly im Nachhinein. Stattdessen studierte sie Englische Sprach- und Literaturwissenschaft, belegte Fachkurse in Kunstgeschichte, absolvierte den Fotografie-Studiengang an der Journalistenschule MAZ, einen CAS in Kulturmanagement und einen Master in Kuratieren an der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK).
Im Oktober 2011 eröffnete sie gemeinsam mit Anita Bättig die Galerie «knoerle & baettig contemporary» im Sulzerareal und später am Obertor. Spezialisiert hatten sie sich auf zeitgenössische Kunst aus Europa und dem panamerikanischen Raum. «Wir wollten Brücken bauen zwischen den beiden Kontinenten», sagt Merly. Ende 2019 mussten sie die Räumlichkeiten verlassen. Aus dieser Zeit weiss sie nur zu gut, wie schwierig die Finanzierung eines Kunstbetriebes sein kann. «Als Galerie hat man leider weder Anspruch auf Subventionen noch auf jegliche Art von Förderung. Wir hatten nur unsere Ersparnisse, jede Menge Wille und viel Beharrlichkeit», erzählt die Mutter eines 11-jährigen Sohnes. Die Tücken des Fundraisings sind ihr aus ihren Projekten als selbstständige Kuratorin bestens bekannt: «Der Aufwand für das ständige Geldsuchen wird ziemlich unterschätzt.» Auch mit der Villa Sträuli kommt in dieser Hinsicht eine grosse Aufgabe auf sie zu. Merly und ihr Team werden nämlich ohne die Fördergelder der Stiftung Sulzberg auskommen müssen. Zugesichert sind die Subventionen der Stadt Winterthur und des Kantons Zürich. «Es wird keine leichte Aufgabe, ein reichhaltiges Kulturprogramm mit Projekten, Matineen, Ausstellungen und Kunstvermittlung mit diesem Budget weiterzuführen», sagt sie etwas bekümmert.
Auch wenn nicht jedes Projekt den gewollten Lauf nimmt, Merly verliert weder Optimismus noch Durchhaltewillen. «Ich kann mir eine Welt ohne Kunst nicht vorstellen», sagt sie. Kein Jazz, kein Monet, keine Pippilotti Rist? Viele Menschen würden Kunst und deren Wahrnehmung in erster Linie als ästhetische Erfahrung sehen. Dabei sei Kunst viel mehr. «Sie ist Reibungsfläche, Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit sozialen Problemen oder politischen Debatten. Kunst hilft uns, uns weiterzuentwickeln», ist Merly überzeugt. Auch wenn man manchmal überhaupt keine Lust drauf habe, sich mit der Realität auseinanderzusetzen.
Während ihrer Galerie-Zeit widmete sie sich immer wieder auch anderen Projekten. Für die 12. Biennale Havannas im Jahr 2015 kuratierte sie das Projekt «This is exchange» des deutsch-britischen Künstlers Tino Sehgal. Im letzten Herbst stellte sie mitten in der Pandemie das Festival «Intra Muros» auf die Beine. An privaten, ansonsten der Öffentlichkeit eher schwer zugänglichen Orten waren im vergangenen November während dreier Tage Kunstinstallationen, Performances und musikalische Interventionen zu sehen und hören. «Man konnte das Bedürfnis nach Kunst seitens des Publikums förmlich spüren», erzählt sie – abgesehen davon seien die Kunstwerke absolut toll gewesen.
Für die Leitung der Villa Sträuli kommen Merly nebst ihrem Faible für die Interdisziplinarität auch ihre weitreichende Vernetzung und ihre akademische Ausbildung zugute. Die Schwerpunkte des Kulturhauses legt sie auf verschiedene Bereiche: Im Künstler*innenhaus wohnen übers Jahr hinweg insgesamt neun Artists-in-Residence. Die Vernetzung zwischen den letzteren und der lokalen Kunstszene liegt Merly am Herzen. «Kern und Antrieb ist es, einen Ort für Begegnungen zu schaffen, in dem die Zusammenarbeit und gegenseitiger Einfluss der ausländischen und der lokalen Kunstszene ermöglicht wird.» Trotz intensiver organisatorischer und strategischer Neuerungen will sie anspruchsvoll gegenüber der Kunst bleiben.
Merly denkt nach aussen, in Vernetzungen und Schnittstellen. Mithilfe von Kollaborationen will sie diese noch vertiefen und intensivieren. Das Kulturprogramm wiederum unterteilt sich in weitere Unterbereiche: Ausstellungen, Samstagsmatineen, Projekte sowie ein Vermittlungsprogramm zu den aktuellen Ausstellungen mit Workshops und Führungen für Schulen und Erwachsene – kurzum ein Ort, wo die Kunst Menschen zusammenbringt.
STICHWORT: Eröffnung
Die Vernissage und Eröffnung der Villa Sträuli findet am Samstag, 6. November zwischen 14 und 20 Uhr statt.
www.villastraeuli.com
Hanna Widmer verbringt ihr Leben irgendwo zwischen Literatur, Musik und Klassenzimmer.