Sechs Politiker und eine Politikerin, alle von verschiedenen Parteien, diskutierten am 20. Januar 2022 im Forum Architektur zum Thema «Städtebau im Wahlkampf». Anwesend war auch die baldowernde Emynona a.k.a. «ich» und dann noch ein paar andere Leute, etwas mehr als zwanzig. Silbern funkelte das Licht im grauen Haar. Ein Grossteil des Publikums war im fortgeschrittenen Alter. Dagegen spricht natürlich nichts – angeblich ist «das Altern» ja eine biologische Tatsache. Irgendwie dachte ich aber, dass nur meine 90er-Generation sich der parlamentarischen Politik gegenüber so oh-well-whatever-never-mind-mässig verhält und die 00er-Jugendlichen heute politikinteressierter seien – Schlagworte bevölkern ja inzwischen zur Genüge den Alltag. Zumindest ein paar wenige von denen, die an den letzten zwei grossen Demos in Winterthur (feministischer Streiktag, Netto-Null-Demo) zu sehen waren, werden ihren Weg hierhin finden, um mit genervten Seufzern die Aussagen der Politiker oder der Politikerin zu kommentieren – dachte ich. Falsch gedacht. Mein obsoletes oh-well-whatever-never-mind-Gewissen war erleichtert und meine Hoffnungen (?) desillusioniert. Also bis anhin: alles wie immer!
Da die Diskussion auch online gestellt wird, erspare ich es dir, die Antworten der verschiedenen Politiker und der Politikerin nachzuzeichnen. Dass hier innerhalb einer Diskussion einmal einige der aktuellen städtebaulichen Themen zu Sprache gebracht wurden, scheint mir einerwegs das Wichtigste gewesen zu sein, was man von dem Abend mitnehmen konnte. Hier also ein Abriss, der dich mit Schmackes birre-bitzeli darüber informiert, was stadtentwicklungstechnisch so ansteht. Voilà, die Fragen und Antworten in Presswurstform präsentiert:
1. Frage: Soll die Stadtgärtnerei beim Büelpark umgezont werden, sodass dort Wohnungen gebaut werden können? Begründung erste Ja-Antwort: Dort soll gemeinnütziger Wohnungsbau gefördert werden. Erstes Gegenargument: Die Stadt Winterthur fördert gemeinnützigen Wohnungsbau bereits, wir haben sogar einen Fonds mit 10 Millionen Franken dafür. Begründung zweite Ja-Antwort: Dort sollen «Wohnungen für das hohe Preissegment» entstehen … weil, halt, eben, die Lage ist gut und Vermögende werfen «bekanntlich» mehr Steuern ab – zumindest, wenn sie entsprechend besteuert werden, aber, oh, ach ja, dann kommen sie ja nicht hierhin, hmmm, Mist. Zweites Gegenargument: Die Wohnungen im hohen Preissegment sind in Winterthur diejenigen mit dem grössten Leerstand … Tja, warum sollte ich auch so viel Geld ausgeben für eine Wohnung mit einem Grundriss, bei dem das Wohnzimmer die Hälfte der Wohnung ausmacht? Vielleicht um in dieser weit-luxuriösen Leere auf meiner Yogamatte alleine und piekfein über das Elend der Welt zu meditieren und mich im Weltschmerz zu suhlen? Nice.
2. Frage: Was passiert mit dem Rieterareal hinter der Endstation Töss? Es wurde so in etwa gesagt: Wenn Rieter der Marktlogik folgt, wären sie wohl dafür, dass man das Gebiet umzont und für den Wohnungsbau benutzt. Weil: Gibt mehr Cash. Wenn es Gewerbezone bleibt, dann müsste es sicher besser an den ÖV angeschlossen werden. Nice-to-know: In Winterthur gibt es mehr Einwohner*innen als Arbeitsplätze. Olé! So viel zu ökologisch sinnvollen, psychisch wünschenswerten und den Lebenssinn steigernden kurzen Arbeitswegen.
3. Frage: Warum sind Neuhegi und Grüze graue Flecken in der Gartenstadt Winterthur? Hat man es hier verschlafen, ein besseres Konzept für die Grünflächen einzuplanen? Hm. Ja. Klar der Eulachpark ist eine Oase … aber er ist halt eine Oase, weil er in sich in einer Asphaltwüste befindet. Man kann argumentieren, dass die Innenhöfe der wohligen Wohnmaschinen begrünt sind. Aber der Clou an Innenhöfen ist halt – und du musst dich nicht dumm fühlen, ich war auch überrascht, als mir das zum ersten Mal erklärt wurde –, dass sie sich im «Inneren» befinden … also, du weisst schon, das ist das, was man von «aussen» nicht sieht. Der Fehler, so wenig Grünraum einzuplanen, soll für die Zukunft vermieden werden. Ääähm, nice?
4. Frage: Was ist eigentlich falschgelaufen mit Rudolf? Beziehungsweise der Strasse hinterm Bahnhof. Also «die» Rudolfstrasse … ja, genau, der Ort in Winterthur, an dem man sich fragt, ob man sich das Billett für die S12 nicht gleich sparen will, weil es hier sowieso schon aussieht wie in Zürich. Am Podium wurde gesagt: Sie ist halt leider nicht so geworden, wie sie geplant war. Was soll man dazu noch anmerken? «Schade»?
5. Frage: Soll das Bettenhaus vom KSW geschützt werden, da es ein architektonisch wichtiger und immer noch effizienter Bau sei? Naja. Es wurde angemerkt, dass es von Seiten KSW heisst, die Decken seien zu niedrig und das sei nicht funktional – sei halt unpraktisch für moderne medizinische Technik. Einer der Politiker kommentierte ausserdem, wenn das Bettenhaus noch funktionstüchtig sei, dann würde der Markt schon dafür sorgen, dass es bestehen bleibe. Irgendwann muss mir irgendwer mal erklären, wie das mit diesem personifizierten Markt abläuft. Er scheint mir so etwas wie der Anti-Weihnachtsmann zu sein. Dem Weihnachtsmann kannst du deine Wünsche schicken und dann bringt dir der verkleidete Onkel Johnny am 24. torkelnd die Geschenke vorbei. Und beim Markt? Dem Markt gegenüber darfst du deine Wünsche äussern und er sagt: «Fick dich». Hach, im Geist ist der Markt eben auch ein Onkel Johnny – immer berauscht, nie nüchtern und keiner getraut sich, mit ihm über seine Probleme zu reden. Oh, Johnny. Armer, armer Johnny. Johnny be good.
6. Frage: Braucht die Baubehörde mehr Personal? Ich paraphrasiere hier nur ein wenig salopp die Antwort, die mir am besten gefallen hat, weil sie so gänzlich pessimismusfrei war: Ne, die müssen halt zufrieden sein, mit dem was sie haben; das, was ihnen fehlt, können sie ja mit «Kreativität» ausgleichen. Dass heute aber auch wirklich alle immer so scheisskreativ sein müssen – schon krass, nicht? Ich habe inzwischen schon Mitleid mit den Künstler*innen. Ich meine, nach der Kunsthochschule treten sie hinaus in die Welt und müssen erfahren, dass Kreativität inzwischen die Grundanforderung eines jeden Berufsfeldes ist. Und als Sprachpuristin möchte ich noch einwerfen: Warum rennt dieses allzu amerikanische Wort «creative» eigentlich überall herum wie ein ungehobelter Tourist, der sich aus Langeweile überall einmischt? Was ist aus der guten alten «Fantasie» und der guten alten «Einbildungskraft» aus den «guten alten» Zeiten geworden? Können wir uns nicht wiedermal ein wenig Realismus angewöhnen und sagen: Ja, wenn die personellen Ressourcen fehlen, um das Projekt XY anständig umzusetzen, sollen die überarbeiteten Übriggebliebenen halt ihre «Fantasie» benutzen! Sie könnten sich ja zum Beispiel einfach «einbilden», sie hätten das Projekt schon umgesetzt! Ich mein: Fake it till you make it, baby! (Und wo wir schon beim Thema sind, ein paar Buchempfehlungen: Andreas Reckwitz – «Die Erfindung der Kreativität», Ulrich Bröckling – «Das unternehmerische Selbst», Richard Sennett – «Der flexible Mensch» … also ich hab die natürlich selbst nicht gelesen, aber eben: Fake it till you make it, baby!)
7. Frage: Ist die Zeit reif, um jetzt schon über einen Untergrundbahnhof zu diskutieren? Manche sagen ja. Alle sagen, das sei ein generationenübergreifendes Projekt. Also mit anderen Worten: Du und ich, wir sind eh tot, bevor irgendwer anfängt, diese unterirdischen Röhren zu buddeln. Eigentlich kann es uns also egal sein, oder? An der Podiumsdiskussion, die als «Elefantenrunde» bezeichnet wurde, wurde schliesslich der «Elefant im Raum» auch nicht angesprochen. Also die Frage, wie Wachstum, Produktionsmittelverteilung, Klimaerwärmung, steigende Meeresspiegel, Migrationsbewegungen und das Leben zukünftiger Generationen miteinander verbandelt – oder gar ein und dasselbe? – sind. Du magst rufen: «Schakalabraka, das ist jetzt aber hochgestochen!» Stimmt, das ist ja eher so eines dieser «geopolitischen» Themen. Das geht also nur die Welt etwas an – und nicht Winterthur. Blöd ist halt nur: Als ich das letzte Mal im «Atlas der erfundenen Orte» nach Winterthur gesucht habe, habe ich es nicht gefunden. Zu meinem äussersten Erstaunen und Bedauern entdeckte ich es dann aber in einem «Welt»-Atlas! Ich meine, tja, eh, echt schade. Schakalabraka!
8. Frage: Ist die Farbe der neuen Vogelsang Überbauung schön? Oja. Ja, ich würde dir gerne sagen, dass in einer Stadt, in der zitronengelbe, grellminzfarbene und quietschblaue Wände zwischen alten Fassaden aufblitzen, nicht über das Orange und Grün von der Überbauung an der Vogelsangstrasse diskutiert wurde. Ich würde es dir wirklich gerne sagen.
So, das ist alles, was ich aus der Podiumsdiskussion zu rapportieren habe. Du bist jetzt hoffentlich informiert. Und wenn nicht, dann geh das nächste Mal selber hin. Ich wünsche dir noch ein schönes restliches Leben. Und ich ziehe mich jetzt wieder in mein Couchpotato-Dasein zurück.
Kritter, Brüder, Schwestern und so weiter, Emynona liebt euch alle!
PS: Jetzt mal ganz Ernst: Danke, Forum Architektur, dass ihr solche Veranstaltungen organisiert! Danke an die Diskutierenden, dass ihr die Aufgabe wahrgenommen habt. Und, aaach nein, ihr müsst euch doch nicht bei Emynona dafür bedanken, dass sie sich ihrer Aufgabe auch angenommen hat! Nichts für ungut!