Immerhin bin ich nicht erst seit vorgestern in dieser Stadt zuhause. Ich würde sie gerne unsere Stadt nennen, ohne dabei jemensch auszuschliessen. Wenn wir über die Plätze dieser Stadt schreiben, ist dies stets eine Beschreibung: Mit deinen Worten lackierst du die Orte in neuen Farben, tunkst sie in neue Nuancen – die Nuancen deiner Perspektive. Es erwärmt mir das Herz, die Orte dann in neuem Licht zu betrachten. Als ich dies feststellte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Indem wir über die Orte dieser Stadt schreiben, geben wir ihnen unsere Zuschreibung, machen sichtbar, was ansonsten einigen vielleicht verborgen bliebe. Wir lassen die Lesenden durch die jeweilige Autor*innenbrille auf die Orte blicken. Dabei vergesse ich nie, dass diese Brillen kein allgemeingültiger Blick auf die Welt sind. Sie sind die unseren, jede so individuell wie ihr*e Träger*in und doch auch gleich, im ewig wunderschönen Dilemma der menschlichen Existenz. Ein Brief braucht ein wenig Pathos, findest du nicht auch?
Ist es nicht eine ungeheure Macht, die mit dem Griff zum Stift einhergeht? Ganz grundsätzlich bin ich kein Fan von Machtverhältnissen, möchte weder herrschen noch beherrscht werden. Aber meine Zu- und Beschreibungen stehen ja nicht als Gesetze in Stein gemeisselt. Sie dürfen, ja sollen sogar, hinterfragt werden. Denn oft, ja meistens sogar, sind sie voller Widersprüche – Widersprüche, die ich selbst auszuhalten lernen muss.
Weisst du, manchmal wünsche ich mir, bereits jetzt alt zu sein. Ja, alt. Nicht irgendwie älter, sondern richtig: alt. Vielleicht romantisiere ich das Alter aber auch völlig. Für mich, die nicht 20 werden wollte (depressiv …), ist es nun sieben Jahre später (und mehr oder weniger gesund) absolut erstrebenswert, alt zu werden. Da ich finde, dass das Leben ab 25 so wirklich aushaltbar wurde, stelle ich mir vor, dass es ab 30 besser und ab 40 noch besser werden muss. Aber dann ist ja da noch der körperliche Zerfall … Wie erlebst du es, älter zu werden?
Häufig sitze ich Nachmittage lang in einem Praxisraum, oberhalb der Metzggasse, in den ich mich eingemietet habe, um zu schreiben. Nach 17 Uhr ist das Licht dort immer unsagbar schön und der alte Holzboden knarzt voller Leben. Ich schütte dann Unmengen an Grüntee in mich hinein und werde doch nicht so ganz schlau daraus, was es bedeutet, sich in den Texten einer anderen Person zu verlieren, ihnen nachzuspüren. Für mich war es definitiv schön, deine Brille aufzusetzen, deine Eydus auf mich wirken zu lassen, zu verharren und den Impulsen nachzugehen, zu sehen, wo ich Resonanz zeige, was mich berührt. Ich finde es einen unglaublich beruhigenden Gedanken, zu wissen, dass du hier bist. Und schreibst. Neben meinem Schreibtisch – ist das nicht das treffendste Wort überhaupt?! – stehen immer noch deine Zeilen «Ich habe wenigstens das Wort, an das ich mich halte, an den Stift und das Papier. Aber manchmal droht mir die Sprache abhanden zu kommen. Deshalb schreibe ich immer weiter, meine Art der Selbstvergewisserung in dieser Zeit, wo die Kultur verschwunden ist». Diese Zeilen werden für mich eine Art künstlerischer Heimathafen bleiben, weit über die Pandemie hinaus. Ich habe wenigstens das Wort. Wir haben wenigstens das Wort.
Alles Liebe,
Jennifer
***
Eydus von Ruth Loosli
Zentrum Seen
Gelber Briefkasten
Im Zentrum ein loses Nichts
Bin ein Brief der fällt
Im Bus
So schützen wir uns
Der Bildschirm scrollt sich von selbst
Trägt blinde Flecken
Stadtmitte
Ist still geworden
In der Stadtbibliothek
Zeitungen rascheln
Grüze
Halt beim Dazwischen
Immer denk ich ans Essen
An gesüssten Brei.
Gewerbeschule
Da kam ich zurück
Verklagte meine Lehrer
Naja war nötig
Paartherapie an der Bettenstrasse
Föhn über Veltheim
Wörter frieren Sätze ein
Lass mich mal allein!
Hauptbahnhof
Auf den Zug rennen
In den Luftballon stechen
Pf pf pf aua!
Marktgasse
Der Dackel dackelt
Maulfaul der Marktgasse entlang
Herrchen genau so
Singletreff im Albani
Soll ich soll ich nicht
Mir fehlt das Licht der Sphären
Und ein du mit Bart
Im Bus II
Mit bunten Tüchern
Um Kinn Mund Nase zum Ohr
Husten wir leise
Dorfet in Seen 2020
Hinterdorf schenkt ein
Coro hin Coro her -na,
ist doch nicht so schwer!
Homeoffice
Es riecht herb nach Kohl
Heute Waschkorb füllen und
alte Sätze sieben
Zuhause
Gezwungen zum Sein
Rufen wir das Schweigen an
Toupieren das Haar
***
Eydus von Jennifer Unfug
Zentrum Seen
Keine Luft hier drin
Will nicht wieder hinein, er-
trinke im Konsum
Im Bus
Der Algorithmus
Fährt bei den meisten mit und
Bestimmt die Richtung
Stadtmitte
Die Häuser denen
Die darin wohnen wollen
Der Markt regelt nichts
Grüze
Grüss ihn lieb von mir
Hab dich lang nicht getroffen
Winke immer kurz
Gewerbeschule
Dahinter das Zen
Trum meiner Gelassenheit
Glaub an Therapie
Paartherapie an der Bettenstrasse
In fremden Betten
Liegt es sich so bequem doch
Lohnt es sich wirklich?
Hauptbahnhof
Nicht länger warten
Auf den Zug der niemals kommt
Nimmst mal das Velo
Marktgasse
Kaufaufkauf schreien
Uns die Schaufenster an doch
Sagen nicht wieso
Singletreff im Albani
Gar kein Bock auf Prolls
Suche mir lieber einen
Anderen Flirt Platz
Im Bus II
Kristallklar stechen
Augen müde Gesichter
Der Arbeitsamen
Dorfet in Seen
Dorftrottel was solls
Sonst immer interessiert
an Ruhestörung
Homeoffice
Was ist Heimbüro
Für eine meist Schreibende
Wenn nicht draussen sein
Zuhause
Doch da bist stets du
So verlässlich wie Kalk im
Wasser dieser Stadt
***
Durcheinander
Jennifer Unfug ist Veranstalterin, Moderatorin und Schreiberin. Ihr Herz schlägt für Poesie, Kommunikation und Sauerteig.
Diana Lobianco arbeitet für humanitäre Zwecke. Aktuell wohnt sie für ein paar Monate bei ihrem Bruder in Winterthur. In dieser Zeit versucht sie die Stadt zu ihrem Zuhause zu machen.
In der Rubrik «Durcheinander» widmen sich Autor*innen poetographistischen Gedanken. Sie verfassen Texte, indem sie ein Eydu (oder mehrere) entfalten und durch-einander in Bezug setzen. Wer gerne mitmachen möchte, melde sich unter redaktion@coucoumagazin.ch.
Die Eydus von Jennifer Unfug auf den ersten Seiten sind als Antwort auf diejenigen von Ruth Loosli entstanden.