Dreizehn Orte, zwei Stimmen, ein Brief

Dreizehn Orte, zwei Stimmen, ein Brief

Liebe Ruth, all die Orte, über die du in deinen Eydus schreibst, sollten mir eigentlich bestens bekannt sein.

Immerhin bin ich nicht erst seit vorgestern in dieser Stadt zuhause. Ich würde sie gerne unsere Stadt nennen, ohne dabei jemensch auszuschliessen. Wenn wir über die Plätze dieser Stadt schreiben, ist dies stets eine Beschreibung: Mit deinen Worten lackierst du die Orte in neuen Farben, tunkst sie in neue Nuancen – die Nuancen deiner Perspektive. Es erwärmt mir das Herz, die Orte dann in neuem Licht zu betrachten. Als ich dies feststellte, fiel es mir wie Schuppen von den Augen: Indem wir über die Orte dieser Stadt schreiben, geben wir ihnen unsere Zuschreibung, machen sichtbar, was ansonsten einigen vielleicht verborgen bliebe. Wir lassen die Lesenden durch die jeweilige Autor*innenbrille auf die Orte blicken. Dabei vergesse ich nie, dass diese Brillen kein allgemeingültiger Blick auf die Welt sind. Sie sind die unseren, jede so individuell wie ihr*e Träger*in und doch auch gleich, im ewig wunderschönen Dilemma der menschlichen Existenz. Ein Brief braucht ein wenig Pathos, findest du nicht auch?


Ist es nicht eine ungeheure Macht, die mit dem Griff zum Stift einhergeht? Ganz grundsätzlich bin ich kein Fan von Machtverhältnissen, möchte weder herrschen noch beherrscht werden. Aber meine Zu- und Beschreibungen stehen ja nicht als Gesetze in Stein gemeisselt. Sie dürfen, ja sollen sogar, hinterfragt werden. Denn oft, ja meistens sogar, sind sie voller Widersprüche – Widersprüche, die ich selbst auszuhalten lernen muss. 

Weisst du, manchmal wünsche ich mir, bereits jetzt alt zu sein. Ja, alt. Nicht irgendwie älter, sondern richtig: alt. Vielleicht romantisiere ich das Alter aber auch völlig. Für mich, die nicht 20 werden wollte (depressiv …), ist es nun sieben Jahre später (und mehr oder weniger gesund) absolut erstrebenswert, alt zu werden. Da ich finde, dass das Leben ab 25 so wirklich aushaltbar wurde, stelle ich mir vor, dass es ab 30 besser und ab 40 noch besser werden muss. Aber dann ist ja da noch der körperliche Zerfall … Wie erlebst du es, älter zu werden?

Häufig sitze ich Nachmittage lang in einem Praxisraum, oberhalb der Metzggasse, in den ich mich eingemietet habe, um zu schreiben. Nach 17 Uhr ist das Licht dort immer unsagbar schön und der alte Holzboden knarzt voller Leben. Ich schütte dann Unmengen an Grüntee in mich hinein und werde doch nicht so ganz schlau daraus, was es bedeutet, sich in den Texten einer anderen Person zu verlieren, ihnen nachzuspüren. Für mich war es definitiv schön, deine Brille aufzusetzen, deine Eydus auf mich wirken zu lassen, zu verharren und den Impulsen nachzugehen, zu sehen, wo ich Resonanz zeige, was mich berührt. Ich finde es einen unglaublich beruhigenden Gedanken, zu wissen, dass du hier bist. Und schreibst. Neben meinem Schreibtisch – ist das nicht das treffendste Wort überhaupt?! – stehen immer noch deine Zeilen «Ich habe wenigstens das Wort, an das ich mich halte, an den Stift und das Papier. Aber manchmal droht mir die Sprache abhanden zu kommen. Deshalb schreibe ich immer weiter, meine Art der Selbstvergewisserung in dieser Zeit, wo die Kultur verschwunden ist». Diese Zeilen werden für mich eine Art künstlerischer Heimathafen bleiben, weit über die Pandemie hinaus. Ich habe wenigstens das Wort. Wir haben wenigstens das Wort.
 
Alles Liebe,

Jennifer

***

Eydus von Ruth Loosli


Zentrum Seen
Gelber Briefkasten
Im Zentrum ein loses Nichts
Bin ein Brief der fällt


Im Bus
So schützen wir uns
Der Bildschirm scrollt sich von selbst
Trägt blinde Flecken


Stadtmitte
Ist still geworden
In der Stadtbibliothek
Zeitungen rascheln

Grüze
Halt beim Dazwischen
Immer denk ich ans Essen
An gesüssten Brei.


Gewerbeschule
Da kam ich zurück
Verklagte meine Lehrer
Naja war nötig


Paartherapie an der Bettenstrasse
Föhn über Veltheim
Wörter frieren Sätze ein
Lass mich mal allein!


Hauptbahnhof


Auf den Zug rennen
In den Luftballon stechen

Pf pf pf aua!





Marktgasse


Der Dackel dackelt

Maulfaul der Marktgasse entlang
Herrchen genau so





Singletreff im Albani


Soll ich soll ich nicht

Mir fehlt das Licht der Sphären

Und ein du mit Bart




Im Bus II

Mit bunten Tüchern

Um Kinn Mund Nase zum Ohr

Husten wir leise




Dorfet in Seen 2020

Hinterdorf schenkt ein

Coro hin Coro her -na,

ist doch nicht so schwer!


Homeoffice

Es riecht herb nach Kohl

Heute Waschkorb füllen und
alte Sätze sieben


Zuhause


Gezwungen zum Sein
Rufen wir das Schweigen an
Toupieren das Haar

***

Eydus von Jennifer Unfug

Zentrum Seen

Keine Luft hier drin
Will nicht wieder hinein, er-
trinke im Konsum


Im Bus
Der Algorithmus
Fährt bei den meisten mit und
Bestimmt die Richtung    


Stadtmitte
Die Häuser denen
Die darin wohnen wollen
Der Markt regelt nichts


Grüze
Grüss ihn lieb von mir
Hab dich lang nicht getroffen
Winke immer kurz


Gewerbeschule
Dahinter das Zen
Trum meiner Gelassenheit
Glaub an Therapie


Paartherapie an der Bettenstrasse
In fremden Betten
Liegt es sich so bequem doch
Lohnt es sich wirklich?


Hauptbahnhof


Nicht länger warten

Auf den Zug der niemals kommt

Nimmst mal das Velo




Marktgasse


Kaufaufkauf schreien

Uns die Schaufenster an doch

Sagen nicht wieso



Singletreff im Albani


Gar kein Bock auf Prolls

Suche mir lieber einen

Anderen Flirt Platz



Im Bus II


Kristallklar stechen

Augen müde Gesichter

Der Arbeitsamen


Dorfet in Seen


Dorftrottel was solls

Sonst immer interessiert

an Ruhestörung




Homeoffice


Was ist Heimbüro

Für eine meist Schreibende

Wenn nicht draussen sein


Zuhause


Doch da bist stets du

So verlässlich wie Kalk im

Wasser dieser Stadt

***

Durcheinander

Jennifer Unfug ist Veranstalterin, Moderatorin und Schreiberin. Ihr Herz schlägt für Poesie, Kommunikation und Sauerteig. 

Diana Lobianco arbeitet für humanitäre Zwecke. Aktuell wohnt sie für ein paar Monate bei ihrem Bruder in Winterthur. In dieser Zeit versucht sie die Stadt zu ihrem Zuhause zu machen.

In der Rubrik «Durcheinander» widmen sich Autor*innen poetographistischen Gedanken. Sie verfassen Texte, indem sie ein Eydu (oder mehrere) entfalten und durch-einander in Bezug setzen. Wer gerne mitmachen möchte, melde sich unter redaktion@coucoumagazin.ch.

Die Eydus von Jennifer Unfug auf den ersten Seiten sind als Antwort auf diejenigen von Ruth Loosli entstanden.

Polynja
Polynja
Poetographie

Hörtext von Marc Herter.

Fideretten
Poetographie

Wäre es nicht faszinierend, wenn es eine ganz originale winterthurer Literatur gäbe? Ach, die gibt es ja! «Fideretten» entfalten Eydus zu kurzen Geschichten über unsere Stadt. Du willst auch ein…

der turm
der turm
Poetographie

heute ein extra grosses müesli. energie für einen aufregenden tag.