… Ginger, der Reporterkater, streunt durch die Strassen – das Fell verfilzt, Schützi-burgersauce in den Schnurrhaaren, die Augen verklebt. Die Reportage der letzten Nacht hat Spuren hinterlassen. Am Stadthaus vorbeitapsend bemerkt er, dass die Athene-Statue auf dem Dach des Nordgiebels ihn anschaut. Ihre Lippen bewegen sich, Sand rieselt aus ihrem Mund-winkel. Ein Katzenschauer läuft Ginger über den Rücken, als Athenes Stimme erklingt: «Nemesis thront dort / über Sempers Säulenbau / Hoch oben, schau genau!» (1) Wie hypnotisiert geht Ginger dem Stadthaus entlang in die Richtung, in die Athenes Finger weist. Am Südgiebel angekommen wendet sich ihm die Nemesis-Statue zu, orakelt: «Der Säulen Schaft / Wie der Greifen Flügel / Hort letzter Strahlen (2) … schau genau! Schau über den Horizont deiner Zeit hinaus! Noch ist es dunkel. Doch dort flimmert schon das Licht der Sonne, das einst auf die Dächer jener planetaren Gesellschaft fallen wird, die von keiner staatlichen Grenze mehr beschränkt ist. Eine Gesell-schaft, die in ihrer Vergangenheit klar erkennen wird, was Alptraum war und was traumhaft auf ihre utopische Zeit vorauswies. Die unausweichliche Wahrheit ist also, da… » Ginger kotzt. «Heiliges Wollknäuel! Sprechende Statuen, griechische Göttinnen, verdauter Schütziburger … sorry, was!?» Sichtlich genervt wiederholt Nemesis: «Die unausweichliche Wahrheit ist … » – «WWWWWWWW». Ein lautes Surren übertönt ihre Worte. Hinter ihr strahlt ein dunkelblaues Licht hervor und blendet Gin-ger. «Nein-nein-nein-nein», stammelt er noch, da heben seine Pfoten schon vom Boden ab – und umhüllt von einem Antigravitationsstrahl schwebt er dem Mund eines Raumschiffs entgegen.
… Widda legt ihr Handtuch über die Bierzapfhähne. Schichtende. Ringsum: Feierliches Palaver. Sie drängelt sich durch die Meute in Richtung Ausgang. «Zwölf Zuckerdosen / für Dich allein, und der Rauch / Von gestern allen» (3), sabbelt ein blaues Mufflon in sein Bier, dann ruft es schäumend aus: «Der Hauptstrom der Geschichte wird immer von den Sieger*innen geschrieben! Nur manchmal, wenn man sie gegen den Strich bürstet, stösst man auf halbverschüttete Seitenströme. Doch noch verdammt die Gegenwart die Vergangenheit zum Schweigen.» Wie aus dem Nichts springt ein antikapitalistischer Anarcho-Primitivist einem postkapitalisitischen Marxisten an die Gurgel. Widda lacht, sagt zu sich: «Lausch eherner Rede / Voll verwirrender Geister / Was bleibt ist Wahnsinn» (4). Irgendwer aus dem Gemurmel antwortet: «In den Zeiten, in denen der Wahnsinn herrscht, kommen die Wahnsinnigen der Wahrheit am nächsten.» Als Widda die Tür aufstösst hört sie gerade noch: «Wir sind reich geboren, voller Vermögen, warten darauf, uns zu verwirklichen. Aber was heisst Vermögen heute? Kontostand.» Die Tür fällt hinter ihr zu. Hinter ihrem linken Horn zieht sie eine Zigarre hervor. «Hast du Feuer?», fragt sie den Rotäugigen, der draussen am Rauchen ist. Er durchwühlt sein Fell. «Ist das sein wirkliches Fell, voller eingefilzter Seelen … hat ein alter Poncho ein Eigenleben entwickelt … all die Gesichter, die aus ihm herausblinzeln … oder ist der Rotäugige einfach eine riesige, lebend verschimmelnde Katzenminzblüte?», fragt sich Widda, während sie den Rotäugigen betrachtet. «Aaaahjajaja», blökt er und reicht ihr daraufhin ein harzverklebtes FCW-Feuerzeug. Im selben Moment wird Widda von einem Antigravitationsstrahl umhüllt – und gleitet im dunkelblauen Licht dem Raumschiffmund entgegen. «Mein Feuerzeug!», hört sie den Rotäugigen rufen.
… Mit ihren Fuchspfoten zieht Astra die Kuckucksuhr ihres Wohnzimmers auf. Zwischen den Möbeln funkeln Messing-Astrolabien, Himmelskarten, Teleskope. Auf dem Opiumtisch blubbert eine Kristalllichtlavalampe. Widda liegt auf einer Chaiselongue, Ginger auf einem Diwan. Er dreht sich einen Strauss Katzenminze und starrt in die Leere. «So nah … ich war der Wahrheit sooo nah … », er blickt zu Widda rüber, sie hält ihm das brennende FCW-Feuerzeug entgegen. Ginger zündet seinen Minz-Strauss an, nimmt einen tiefen Zug, entspannt sich. «Ach, egal», murmelt er und fragt dann: «Wer steuert heute eigentlich das Raumschiff?» Astra antwortet: «Na, Erwin.» – «Mürner?», fragt Ginger verwundert. Sie nickt. «Der Winterthurer Ufologe?», Astra reagiert nicht, schaut aus einem der Bullaugen. Jener Asteroid, den Markus Griesser, der Leiter der Sternwarte, 2002 entdeckte und «Winterthur» taufte, fesselt ihren Blick. Ginger torkelt zu ihr: «Astra … Warum schweben da gigantische Seerosen durchs All?» – «Ich habe das Fensterglas austauschen lassen. Das neue macht die Diamanet-Strahlung sichtbar. Was sonst ausserhalb des wahrnehmbaren Spektralbereichs liegt, erscheint durch sie: Da, all die Samen, die dem eschenbergschen Mammutbaum kosmisch entströmen und zu schützenweiherlichen Seerosen aufploppen, nehmen wir normalerweise nur als Sternschnuppen wahr; die interstellare Tössforelle, die ihre helixförmigen Bahnen um ihn herum fliegt und die Saat verschlingt, «Sonne» nennen wir ihr blasses Auge sonst nur; und sieh, in den inneren Kreisen reitet der sensenschwingende Space-Holidi auf dem Kyburger Bärlauch-Eber, schneidet die reifen Äste ab und flechtet sie der Regenbogenschärpe ein, die hinter ihm her wabert; der lindengutliche Goldfasan, der da auf seiner Schulter sitzt, leitet mit seinem Schweif den Blick Holidis; der schlaue Vogel wacht darüber, dass der Holzkopf keinen Ast zu früh vom Baum schlägt. Ginger kotzt. Widda lacht, ruft: «Die Diamanet-Strahlung scheint Verkaterten nicht zu bekommen!» Ginger torkelt zum Diwan zurück, Astra bleibt am Bullauge. Das Raumschiff nähert sich Winterthur-Seen. Sie blickt hinab, murmelt: «Fruchtfleischfarben hängt / das Laub und dein Mundwinkel / tut das meistens auch (5) … Erde, vergängliche Frucht, du kreist durch endlose Weiten. Und deine lallenden Kreaturen diskutieren selbstgerecht über «ihre» Geschichte. Ein paar astronomische Sekunden lang. Dann verstummt das Gemurmel. Die Sonne implodiert. Die stumme Forelle verschluckt alles.» Astra öffnet das Fenster, «Wuuuuh», ruft es vom Bruderhaus her. Das Wolfsgeheul schiesst durch Astras Adern, reisst sie aus ihren Gedanken. Sie antwortet: «Hör, Wolfsrudelklang / und Hexengesang tanzen / am Himmel der Stadt.» (6) Erwin parkiert das UFO bei der Sternwarte, direkt neben «Dem kleinen Tor zum grossen Universum». Widda, Astra und Ginger steigen aus. Astras Morpho-Kleid ist erregt, wellt in tausend Farben – jaspisbraun, topasgold, amethystviolett, smaragdgrün, rubinrot, saphirblau, opalschillernd. Als es sich der Erdatmosphäre akklimatisiert hat, wird es fuchsrot.
… Leermond. Blau. Wolkenlos. Ein Fasanschweif streift das Sternbild Lyra. Es ist Ende April und der Wind, der die Halme auf der Eschenberglichtung biegt, ist überdurchschnittlich warm. Die letzten Insekten kehren aus der Winterstarre zurück und der geschmolzene Frühlingsschnee aus der Erde in die Knospen. Sieht man genau hin, entdeckt man auf der schattendurchstiebten Wiese eine Wolldecke. Gibt man sich Mühe, erkennt man darauf drei Gestalten: Widda, Astra und Ginger. Im Dunkeln glühen dunkelblaue Schwaden auf, steigen zur ozeanischen Kristallsphäre empor: Ginger hat sich einen Strauss Purple-Haze-Minze angezündet. Die Nacht nähert sich der tiefsten Dunkelheit. Wenn du dich konzentrierst, siehst du vielleicht noch, wie Astra ihren Kopf auf Gingers Schulter legt und Widdas Arm um sich. Die Stimmen werden leiser. Versinken im Geräusch der Windhalme und ihrer Schatten. Selbst für die Insekten sind sie kaum noch zu vernehmen. Wer weiss schon, wie diese Nacht weitergeht? Vielleicht sagt Astra: «Ach, wie sind wir klein / im feuchten Gras hier liegend / bei Sternenregen» (7)
Text: Julius Schmidt, Sandra Biberstein, Colin Kofmel, Livia Kozma, Aleks Sekanić
Eydus:
(1) Klassizismus – Katherine Bauenade
(2) Abends vor dem Stadthaus – Monique Karrer
(3) Fumoir im Widder (nachmittags leer) – Omar Hetata
(4) Gasthof zum Widder – Dino Lappert
(5) Katzensteig – Jennifer Unfug
(6) Im Bruderhaus – Sandra Biberstein
(7) Sternwarte Eschenberg – Susanna Streit