Das Google-Earth-Team hat genug von unserer Stadt abfotografiert und auf Karten projiziert … geometrische Orte im verkleinerten Massstab … jaja, praktisch beim Shoppen oder wenn man seinen Orientierungssinn in die Virtualität auslagern will, aber vollkommen unnütz, um diese Stadt zu verstehen! Nur Banausen könnten etwas anderes glauben. Es ist also Zeit, das Kartographieren noch einmal richtig anzugehen. Und dafür brauchen wir natürlich flanierende Streunerinnen, umherschweifende Bummler, kurz: tagträumende Poetographinnen und Poetographen. Raus auf die Strassen, Plätze, Türme! Fasst die Orte in Worte! Schafft Erinnerungskonsorten, Stimmungsseismographen, malerisch durchdachte Denkmäler! Winterthur will beschrieben sein. Wie? Mit einer kurzen und allen leicht zugänglichen Textform: ‹Winterthurer Eydus›, die vielleicht, vielleicht aber auch nicht, etwas mit japanischen Haikus zu tun haben und bloss nicht als solche bezeichnet werden, da der japanische Sprachrhythmus und das Schriftsystem sich von unserem unübersetzbar unterscheiden – klar, es handelt sich hierbei um einen kalauernden Taschenspielertrick, aber in der Liebe und der Literatur sind die erlaubt. Also, zur Sache: Wie kannst du dich am bisher weltweit vermutlich grössten poetographischen Projekt beteiligen? Wie soll das ganze aussehen? Anders gesagt: Wie sieht so ein Eydu aus? Es besteht aus einem knappen Titel, der den poetographierten Ort angibt, und aus drei Zeilen. Die erste enthält 5 Silben, die zweite 7 Silben und die dritte wieder 5 Silben – notwendige Abweichungen sind erlaubt, wir wollen ja keinen Formpurismus betreiben. Der Ort werde aus dem konkreten Augenblick heraus beschrieben, als das Selbstverständliche in seiner Selbstverständlichkeit, als ein ‹So-ist-das›, das die Dinge bloss als die Dinge selbst enthüllt. Das einzig Schwere an Eydus sei ihre Leichtigkeit! Zum Beispiel:
Cappu(chino)
Nieselregen fällt
(und ein Glockenschlag), füllt die
leeren Teetassen.
Storchenbrücke
Überm Nebelgleis
brennt dein Pylon neonfeuer-
rot im Dezember.
Warum genau diese Form? Eine Frage, die nur jemand, der zu viele Fragen stellt, fragen kann. Weil jede und jeder sich Eydus aufgrund ihrer Schlichtheit überall und zu jeder Zeit in kurzer Zeit im Kopf zusammenreihen kann. Weil sich mit ihnen die prachtvollen und bekannten Orte in ihrer Schlichtheit präsentieren lassen und die kleinen und unbeachteten Orte in ihrer Grösse. Weil die Knappheit zur Klipp-und-Klarheit verleitet und die Eydus die Vielfalt der Einheit enthüllen werden!
ANLEITUNG FÜR EYDUS:
- Wähle einen Ort in Winterthur aus.
- Schreibe ein Eydu: Titel + 3 Zeilen à 5-7-5 Silben.
- Schicke das Eydu an julius.schmidt@coucoumagazin.ch
- Von den eingesendeten Eydus werden einige ausgewählt und in der nächsten Ausgabe abgedruckt.
- Mit dem Einsenden eines Eydus stimmst du dem Abdruck in einer späteren Gesamtausgabe zu.
Tonente Kreisel Post Seen
Schwindel, umkreist vom
täglichen Trubel, bis ich
endlich zerspring. Quak.
(Colin Kofmel)
Rosengarten
leider kein wc
aber schön diese Rosen
bleib doch hier oben
(Livia Kozma)
auf den lagerplatz
fallen - dann wieder austehn
sind das die skills?
(Livia Kozma)
2er-Buslinie
Weckerlärm im Ohr
Weltschmerz übernimmt das Feld,
arbeiten für Geld
(Ricardo Romero)
Kraftfeld
Drückende Hitze
zum Glück bekommt man hier schnell
ein kühles Bierchen
(Dimitri Dünki)
Friedhof Rosenberg
Die gleichen Regeln
ausnahmslos und ungefragt
bleib und geh dahin
(Nebi Simovic)
Chile am Chileplatz
Dong tönt das Ding da
Gibt Takt und Zeit und Schatten
Ungefragt, jä nu…
(Nebu Simovic)
RES SACRA MISER –
der Arme war am Neumarkt
in Gottes Händen.
(Tomas Gehring)
Holidi heisst du,
homo lignum diligens –
den Wald am Lindberg.
(Tomas Gehring)
Kantonsspital
die Baugerüste
moderne Medizin wächst
mitten im Zentrum
(Katrin Schmidt)
Stadtbus
stadtbus chauffieren
netzwerk transportieren
kommen abfahrend
(Katrin Schmidt)
Steinberggasse
‚Der Ort für Alles‘
Was plakativ klingen mag
und dennoch wahr ist.
(Oliver von Hirschheydt)
Nord-Süd-Haus
Aufm Weg ins Büro
schenkt mir ein obdachloser
Mann die Werke Brechts
(Sandra Biberstein)
Rieter
Fabrik an der Töss
ein Kloster stand früher dort
bald wird umgebaut
(Hugo Biberstein)
Garten in Stadel-Winterthur
Bäume im Garten
Mücken fliegen beim Kompost
Schwalben sammeln sich
(Irène Biberstein)