Ich erinnere mich noch gut an den Abstieg. Es war Sommer, irgendwann anfangs der Nullerjahre, als 24 Primarschüler die schmale Treppe hinab zur Eulach kletterten. Der Boden war glitschig, die Strömung des Wassers war viel stärker als es von oben ausgesehen hatte. Mit Gummistiefeln, Taschenlampen und Proviant ausgerüstet tapste ich zusammen mit meinen Gspänli vorsichtig dem Kanal entlang, bis wir ehrfürchtig vor dem dunklen Tunneleingang standen. «Boah, Wilde-Kerle-Style», verkündet einer meiner Mitschüler freudig. «Ja Mann, krass!», pflichtete ihm ein anderer lautstark bei. Nach einer kurzen Ansprache der Lehrerin traten wir voller Vorfreude und mit etwas Herzklopfen in das dunkle Loch. Hier reisst meine Erinnerung ab.
An einem grauen, regnerischen Vormittag im Januar 2020 befinde ich mich erneut an der Eulach. Von der Brücke hinab folgt mein Blick dem Kanal, schnurgerade verläuft dieser bis zum Horizont. Von irgendwoher wird das Wasser mitten durch die Stadt geleitet, ohne dass es je Beachtung finden würde. Freiwillig habe ich noch nie die Nähe zur Eulach gesucht. Darin gebadet sowieso nicht.
Unbemerkt verschwindet das Gewässer hinter dem Schmalen Handtuch im Untergrund. Ebenso unbemerkt tritt es beim Sulzer-Hochhaus wieder aus dem dunklen Tunnel hervor. Dieser nüchterne Sachverhalt löst eine unerwartete Reaktion aus – eine innere Debatte zwischen zwei Weltanschauungen, die ich in mir trage.
«Das ist das traurigste Trottoir, das ich in meinem Leben je gesehen habe»,
sagt meine emotionale Seite. «Ich meine, Trottoirs sind sowieso nicht gerade besonders inspirierend, aber wenigstens sind die Menschen, die sie benutzen, hin und wieder interessant. Oder schön anzusehen. Dieses hier trägt nicht einmal Menschen. Wie leblos der Fluss in seiner Zwangsjacke aus Beton dahinfliesst. Und dann noch dieser dunkle Tunnel voller Ratten. Das hätte man anders gestalten müssen. Scheusslich.»
«Diese Zentralperspektive finde ich ziemlich hübsch», meint meine pragmatische Seite. «So geradlinig und harmonisch, wie bei den Römern! Aber um Ästhetik geht es hier nicht. Was denkst denn du, weshalb hier keine Menschen baden? Weil der Kanal nicht zum Baden gedacht ist, natürlich. Und auch der Tunnel hat eine klar definierte Funktion, die er erfüllt. Und diese Funktion ist nicht zufällig, sie kommt den Menschen in Winterthur zu Gute. Oder was wäre diese Stadt ohne Zürcher- und Technikumstrasse, ohne Bahnhof und ohne den Stadtbus?»
«Wahrscheinlich ein und dieselbe Stadt, mit etwas anders liegenden Hauptverkehrsachsen. Es ist die Bevölkerung und die Gemeinschaft, welche eine Stadt prägt, nicht seine Infrastruktur. Die egoistischen Ideen irgendwelcher Architekturbüros und Städteplaner*innen rechtfertigen nicht, dass wir den Lauf der Natur zähmen, unserer Bequemlichkeit unterordnen und schliesslich links liegenlassen. Solch eine destruktive Machtausübung steht uns gar nicht zu; wir sind ein Teil des Ökosystems, nicht Herrschende über die Welt. Eine graue, leblose Steinwüste war noch nie Nährboden für ein gesundes Zusammenleben. Wir haben nicht einmal einen See, da wäre ein Fluss doch umso wichtiger!»
«Im Gegenteil. Es war schon immer in der Natur des Menschen, Ordnung ins Chaos zu bringen. Wir erkennen Muster in der Welt und versuchen, uns die Umwelt zunutze zu machen. Es gibt kein natürlicheres Verhalten. Auch ein Kaninchen würde Werkzeuge gebrauchen, wenn es denn fähig dazu wäre. Effizienter Transport, verlustfreie Abläufe und rationale Städteplanung kommen den Einwohner*innen viel mehr zugute als dreimal im Jahr baden zu gehen. Mehr und schnellerer Austausch wird ermöglicht, Jobs werden geschaffen und die ganze Bevölkerung profitiert vom wirtschaftlichen Wachst...»
«Jetzt hebed beid mal d Schnurre!» ruft das Kind in mir. «Gömmer endli s’Tunnel go erkunde. Wilde-Kerle-Style!»
Zusatzinfo:
Ab März bis November finden ein- bis zweimal pro Monat öffentliche Führungen durch den Eulachtunnel statt. Die nächste ist am 14. März um 14 Uhr. Tickets und private Führungen können unter www.winterthur-tourismus.ch gebucht werden.