«Nochmal vom gleichen?», fragt uns der Barkeeper und zeigt auf die halbleere Flasche Rotwein hinter der Bar. Wir nicken. Jetzt kommt es sowieso nicht mehr drauf an. Eigentlich ist Montagabend. Eigentlich sollten wir bereits zu Hause sein. Doch die flüssige Melancholie hat unser Urteilsvermögen benebelt. «Pure Vernunft darf niemals siegen», hat schon einer der wichtigsten Denker unserer Zeit verkündet und da kann ja niemand widersprechen!
Also trinken wir weiter, denn manchmal gibt es nun mal keinen gesunden Umgang mit den eigenen Problemen. Vor allem nicht, wenn es um Herzensangelegenheiten geht – um mühsame Ex-Partner*innen, um allfällige Schwärmereien, um selbstzerstörerische «Es ist kompliziert»-Szenarien. Alkohol ist natürlich nur eine temporäre Lösung, aber immerhin hilft er, einen Abend lang zu verdrängen, wie überfordert und verloren man sich gerade fühlt. Und auch wenn man sich am nächsten Tag meist wünscht, wenn der Kater schwer auf einem liegt, dass die Vernunft doch gesiegt hätte, so bleibt das ein Problem des eigenen Zukunft-Ichs. Denn das Ich, das im Moment lebt, ist bereits betrunken, hat rote Lippen vom Wein und will noch nicht an morgen denken.
«Wir schliessen jetzt», erklärt uns der Barkeeper und zeigt auf die Tür. Wir nicken. Jetzt kommt es sowieso nicht mehr drauf an. «Karaoke!», schreist du und ich bin einverstanden. Doch es ist Montag und um diese Zeit ist die Karaokebar zu. Fassungslos und aufgelöst machen wir uns auf den Weg in die einzige Bar, am Rande der Winterthurer Altstadt, die 365 Tage im Jahr offen ist. Dort, wo man immer ein kühles Bier und ein Lächeln der Serviceangestellten erhält. Dort, wo man immer willkommen ist, egal in welchem Zustand man sich befindet. Dort, wo man sich nicht für die eigene Verfassung rechtfertigen oder schämen muss.
Eine Bar, die sich schon beim ersten Betreten anfühlt, als wäre man bereits da gewesen. Was genau dieses Gefühl auslöst, ist unklar. Vielleicht weil es solche «Chnellen» in allen europäischen Städten gibt. Vielleicht ist es die Holzvertäfelung der Bar und die aufgeklebten Sticker und Postkarten, vielleicht die Spielautomaten, vielleicht die Musik, vielleicht die Beleuchtung. Oder aber es sind die Menschen. Hier trifft sich das Gastrogewerbe nach Feierabend, wir, die verlorenen Seelen und verschiedene andere Leute, die nicht wissen, wohin mit sich. Und als wir nach der Beschlagnahme der Jukebox das Fumoir stürmen und uns bei den Anwesenden für unseren lauten Überfall entschuldigen, sagen diese nur: «Das isch d’Chnelle ebe.» Was so viel heisst wie: «Hier musst du dich nicht rechtfertigen, hier darfst du einfach so sein, wie du dich gerade fühlst.»
Und so singen und saufen und tanzen wir weiter, in diesem Raum, der aufgrund der weissen Kacheln an der Wand aussieht, als wäre er früher mal Küche oder Bad gewesen.Früher, das heisst vor 1983, denn die Chnelle 3 ist schon alt. Und nun schallen die melodramatischsten Songs der letzten 20 Jahre aus den Boxen und wir verlieren uns in der Musik und im Bier.
Ich könnte jetzt lügen und behaupten, dass ich mich, wenn ich mich an diesem Ort so umschaue, gar nicht mehr so schlecht fühle, denn im Vergleich zu den anderen hier, scheint es mir verhältnismässig gut zu gehen. Ich könnte aber auch ehrlich sein und mir eingestehen, dass es mir hier besser geht, weil ich daran erinnert werde, dass ich nicht alleine bin. Dass das Leben manchmal mühsam und anstrengend ist. Dass ich noch mit dem gesunden Umgang mit Überforderung hadere. Dass es meine Vorstellungskraft übersteigt, dass wir auf einem riesigen Planeten durchs Weltall eiern und dennoch aneinander und an vermeintlichen Unbedeutsamkeiten verzweifeln. Und dass es immer noch Menschen gibt, die sich, ohne mich dafür zu verurteilen, an meinen Tisch setzen und mit mir anstossen.