Ja, Winterthur hat vielleicht keinen See – aber es ist ja nicht so, als hätten wir keine Gewässer. Gut, die Eulach haben wir zum Kellerkind verdonnert, und die Abstimmung für einen See ist auch nicht gut ausgegangen. Wären die Nazis nicht an die Macht gekommen, gäbe es in unserem Nachbardorf Seuzach vielleicht noch einen See, denn dieser wurde während des Zweiten Weltkriegs trockengelegt, um Kartoffeln anzupflanzen. Jetzt müssen wir uns mit den Flüssen begnügen. Da gibt es zum Beispiel die Töss, auch wenn du am Wochenende ähnlich früh aufstehen musst wie deutsche Touristen, die ihr Badtüechli auf ihrem Lieblingsplatz deponieren, um noch einen gemütlichen Platz zu finden. Du kannst natürlich auch in die Badi gehen, aber da ist das Spiel leider ähnlich. Und wenn du keine Diskussionen mit Kindern führen willst, mit denen du den Brunnen in der Steinberggasse teilst (sie mussten mir letztes Mal hoch und heilig schwören, dass niemand in den Brunnen pinkelt), dann musst du dir Alternativen einfallen lassen. Zudem willst du dir wahrscheinlich nicht den «Despacito»-spielenden Gitarristen antun, der die Steinberggasse beschallt, oder den Velofahrenden ausweichen.
Fernab vom Lärm der Stadt, nach einem kurzen Spaziergang durch den Lindbergwald, findest du die schönste und behütetste Oase: den Walcheweiher, der eigentlich Walkeweiher heisst. Denn das Wasser des Weihers, der mindestens seit dem 15. Jahrhundert in städtischem Besitz ist, wurde im 17. Jahrhundert für den Betrieb einer Walke genutzt – also um Filz aus Tierhaaren herzustellen. Vermutlich kommt daher auch der Name. Später waren es die Bierbrauereien, die den Walkeweiher nutzten, denn ohne maschinelle Kühlanlagen gab es grossen Eisbedarf. Dazu hatte die Braurerei Haldengut zusätzlich einen zweiten Weiher erstellt.
Du merkst, der Walcheweiher sorgte schon vor rund 130 Jahren für Abkühlung, einfach in einer anderen Form. Heute legst du dein Bier zum Kühlen in den Brunnen bei der Blockhütte, grillierst mit Freundinnen und Freunden und springst, wenn du mutig bist, sogar vom Steg in den Weiher. Würde der Weiher sprechen können, könnte er dir viele Geschichten aus meinem Leben erzählen. Von unserem Kennenlernen im Kindergarten, als die Einladung zum «Chindsgireisli» noch in der Schriftart Comic Sans verfasst wurde und ich in Zweierreihe zu ihm spaziert bin. Davon, wie ich während irgendeinem Geburtstags- oder Abschlussfest von Sirup auf Schnaps umstieg und mir am Feuer die Augenbrauen versengte. Und von den riesigen Lagerfeuern, um die ich und meine Freunde sassen, über Gott und die Welt philosophierten und Musik hörten. Über die Jahre hat sich der Soundtrack dazu verändert, von Rammsteins «Seemann» über «Kopfüber in die Hölle» von die ärzte, bis hin zu «Tequila Sunrise» von Cypress Hill, «At the end of the day» von Amon Tobin und «Ten Cent Pistol» von den Black Keys. Müsste ich den Weiher aber auf einen einzigen Song reduzieren, wäre das «Nachtbaden» von Madsen. Denn zu später Stunde wird die Idylle im Wald nahezu magisch, und du läufst nicht Gefahr, den jungen Familien bei der veganen Früherziehung zuhören zu müssen, wie das am Sonntagnachmittag ab und zu der Fall sein kann.
Am schönsten ist der Walcheweiher allerdings am frühen Morgen: Immer dann, wenn du mit deinen Freundinnen und Freunden nach einer durchtanzten Nacht Kaffee und Gipfeli am Bahnhof holst und dann zum Weiher fährst. Ihr geht zusammen schwimmen und versucht nicht unterzugehen, während die Sonne gerade aufgeht. Ich glaube, es gibt nichts Schöneres, als sich im Wasser treiben zu lassen und den Himmel zu betrachten. Der Lindbergwald rund um den Weiher rahmt dein Blickfeld, und du bewunderst die Baumkronen – vor allem die der beiden Mammutbäume, die schon seit 1899 beim Weiher stehen. Und für einen kurzen Moment ist alles in Ordnung.