Sich selber in Ruhe lassen ist schwer genug in der Hektik, deshalb muss man Orte finden oder schaffen, an denen man entspannen kann. Es geht darum, sich zu erholen, und zwar nicht, weil man vor Erschöpfung nicht mehr kann, sondern weil man ganz kurz Pause drücken will. Einer dieser Orte ist für mich der Rosengarten. Schon seit 1964 blühen hier oben um die 2900 Rosen, der Garten war ein Geschenk der Stadt Winterthur an die Bevölkerung anlässlich der 700-Jahr-Feier. Vom Bahnhof her bist du in etwa zehn Minuten auf dem Hügel und musst weder so viele Stufen noch so viele Höhenmeter wie am Goldenberg überwinden. Die Aussicht ist gleich: Winterthur von oben. Viel Stadt und noch mehr Himmel. Da gewinnst du gleich ein bisschen Distanz zum Trubel und Chaos, welches das Nacht- beziehungsweise Stadtleben manchmal mit sich bringt.
Ich liebe diesen Ort – zu jeder Tages- und jeder Jahreszeit.Es ist ruhig hier am Abend. Wenn du den Tag schon hinter dir hast und entspannen willst – hier oben hast du am längsten Sonne und einen schönen Sonnen untergang über dem Brühlberg mit Sicht aufs Sulzerhochhaus.
Menschen geniessen hier ihre Zweisamkeit, haben Picknick dabei, trinken ihr verdientes Feierabendbier oder sitzen vertieft in ein Buch auf einer Bank. Im Sommer kann man auch gut Kubb (das Spiel, bei dem zwei Mannschaften Holzklötze rumwerfen) spielen, weils doch deutlich weniger Menschen (und deutlich weniger Schatten) als im Stadtpark hat. Wie viele Nachmittage und Abende habe ich hier oben echt schon verbracht, mit Freunden, Bier und gutem Sound (z. B. «Drogen nehmen und rumfahren» von Die Zukunft, «Weit hinaus» von Feine Sahne Fischfilet oder «Hi Freaks» von Tocotronic)?
Aber auch früh am Morgen ist es schön hier – dann stolpere ich aus dem Kraftfeld, Salzhaus oder Albani, taumle trunken durch die verlassenen Gassen und dann die Stufen hinauf zum Rosengarten, wo ich mir eine leere Bank suche. Ich atme tief ein und aus und beobachte, wie der Himmel wieder heller wird – die Nacht ist vorbei, ein neuer Tag beginnt.
Hier oben finden sich die letzten Helden und Heldinnen der Nacht: Wesen, die noch immer wach sind, deren Pupillen teilweise grösser sind als meine Zukunftsaussichten und deren Musik schneller als mein Puls nach dem Treppenlaufen ist. Die mit dem schnellen Puls sind auch hier, die irritierenden Menschen, die wieder wach sind und morgens um fünf Uhr finden: «Doch, Joggen, das wärs jetzt eigentlich.» – Also ein Teil unserer Spezies, dem ich wirklich nur hier oben begegne. Dann sind da noch die Menschen mit Hund oder die mit seniler Bettflucht – und eine Schnittmenge davon. Ich bin auch da und staune. Darüber, wie wir alle koexistieren, ohne uns wirklich zu begegnen... Wie wir uns alle hier einfinden, ohne einander zu finden – geschweige denn uns selbst. Hier lässt es sich wunderbar im Selbstmitleid baden, bis ich schrumpelige Finger habe – ich kann alleine auf einer Bank sitzen, zu viele Zigaretten rauchen und Musik hören (z. B. «Happiness is a warm gun» von Marc Ribot oder «No Sense» von Cat Power oder – wenns ganz schlimm ist – «Roads» von Portishead).
Hier oben kann ich mir die grossen Fragen des Lebens stellen, auf die 42 keine Antwort ist: Warum gibt es die Rosensorte «Golden Shower», aber keine Toilette? Soll ich anfangen Unterschriften zu sammeln? Wurden alle, wirklich alle schon mal von der Polizei kontrolliert oder nur ich? Soll ich trotzdem noch ans Heimspiel des FCW, jetzt wo ich «Hells Bells» so klar höre hier oben und bizzeli Lust bekomme? Seit wann gibts das Openair-Kino auf dem Bahnhof nicht mehr – von hier aus hatte man Ton und Bild und das sogar gratis? Bin ich die einzige, die auf dem Weg ins Bett auf der Wiese beim Heiligberg einschläft, weil die Sterne an den Musikfestwochen speziell schön leuchten? Sitzt vielleicht jemand auf dem Goldenberg oder sonst irgendwo in dieser Stadt und stellt sich die gleichen Fragen? Und wie viele Lieblingsorte von Winterthur kenne ich noch nicht? Wo kannst du stillsitzen?