Das Erschaffen einer gemeinsamen Realität

«Reality Check! Arbeit, Migration, Geschichte(n)» heisst die aktuelle Ausstellung im Museum Schaffen. Das auf Arbeitsgeschichte ausgerichtete Museum am Lagerplatz thematisiert darin die Verflechtung von Arbeit und Migration in Winterthur. Ein Gespräch mit den Kurator*innen Wanda Seiler und Jose Cáceres.

«Das eigentliche Projekt beginnt mit der Ausstellungseröffnung», erklären Wanda Seiler und Jose Cáceres, die Kurator*innen von «Reality Check!» – und sprechen damit die Leerstellen in der Ausstellung sowie die Lücken in der Geschichtsschreibung der Schweiz an.

Aber von Anfang an. Die Idee, Migration in einem musealen Kontext aufzugreifen, ist auf dem Sulzer-Areal nicht neu: Um das Jahr 2000 wurde in Winterthur ein Projekt für ein Migrationsmuseum initiiert. Es scheiterte an der Finanzierung. «Das Thema Migration war hier also schon mal ein Anliegen, jedoch gab es bis anhin noch kein grösseres Ausstellungsprojekt dazu», sagt Jose, der zur Globalgeschichte der Schweiz forscht. Da in Winterthur schon während der Industrialisierung viele migrantische Arbeiter*innen tätig waren, war Arbeitsmigration für das 2017 eröffnete Museum Schaffen ein naheliegendes Thema, erklärt Wanda, die von 2022 bis 2024 als Kuratorin ebenda arbeitete. Erste Konzepte für eine Ausstellung wurden 2019 geschrieben, aufgrund der Pandemie und zwei Leitungswechseln beim Museum erst 2022 an Wanda herangetragen.

Während sie die Konzepte überarbeitete, entschied sie sich, eine Reflexionsgruppe zu bilden, «weil es mir wichtig war, diese Geschichte aus unterschiedlichen Sichtweisen zu betrachten und aus einer migrantischen Perspektive zu erzählen». Nach viel Networking waren Milad Ahmadvand, Sarah Akanji, Branka Kupresak, Thi My Lien Nguyen, Eleonora Stassi und Andrea Tiziani mit dabei – Winterthurer*innen, die nicht «nur» Migrationshintergrund beziehungsweise Vordergrund haben, sondern sich auch in ihrer Arbeit mit dem Thema beschäftigen. Jose ist anschliessend als projektbezogener Kurator dazugestossen. Wanda hat die Reflexionsgruppe bewusst sehr früh involviert, um mit ihr schon während der Konzeptphase im Austausch zu sein, ihre Wünsche, Expertise und Inputs in das Konzept einzuarbeiten und ihr Mitwirken in der Ausstellung sichtbar zu machen. Sichtbarkeit schaffen ist bei diesem Thema ein wichtiger Aspekt – wenn man bedenkt, dass in
der Schweiz knapp ein Viertel der Wohnbevölkerung von der grundlegenden politischen Mitbestimmung ausgeschlossen ist.

«Im Allgemeinen hat die Schweiz grosse Mühe, sich als Migrationsgesellschaft zu verstehen», sagt Jose, «und gerade wenn Museen oder andere Bildungsinstitutionen sich für migrantische Geschichten interessieren, entsteht so ein Anerkennungspotenzial für einen Teil der Bevölkerung, der sonst nicht oft gesehen wird.» Dies widerspiegeln auch die Schwierigkeiten, sich dem Thema Migration in der Schweiz anzunähern: die fehlende Geschichtsschreibung, die mangelnde Forschung, die mediale Aufladung des Themas, die stereotypen Vorstellungen von Migrant*innen und Migration.

Dass die Schweiz schon länger eine Migrationsgesellschaft ist, steht ausser Frage: «Schweizer Arbeitsgeschichte lässt sich nicht ohne die Beiträge von Migrant*innen erzählen», erklärt Wanda, «heute hat ein Drittel der Erwerbstätigen hierzulande keinen Schweizer Pass. Jegliche Wirtschaftszweige würden ohne Migration schlicht nicht funktionieren.» Doch wie die Ausstellung zeigt, geht Migration über das Thema Arbeit hinaus: «Die Stadt ist durchdrungen von Migration. Auch wenn nicht alle Aspekte sofort sichtbar sind, begegnen doch alle Winterthurer*innen der Thematik täglich in irgendeiner Form», sagt Jose. Doch wie nähert man sich einem so grossen und zugleich so fragmentierten Thema an?

Die Ausstellung geht von Winterthur aus wo 26 Prozent der Einwohner*innen keinen Schweizer Pass haben, 33,5 Prozent nicht in der Schweiz geboren sind und 42,5 Prozent einen sogenannten «Migrationshintergrund» haben. Der erste Raum der Ausstellung beleuchtet, wie vielfältig der Einfluss von Migration auf die Stadt Winterthur gewesen ist. Der zweite Raum stellt die aktuellen Zulassungsbewilligungen des Staatssekretariats für Migration aus und zeigt auf, wie ausschlaggebend der Faktor Arbeit beziehungsweise Erwerbstätigkeit für einen Aufenthalt in der Schweiz ist. Im dritten Raum gibt es eine Chronologie, die Schweizer und Winterthurer Migrationspolitik mit Fokus auf staatlich- strukturelle sowie zivilgesellschaftliche Ereignisse und Bewegungen rekonstruiert, wobei die zahlreichen Akteur*innen, ihre Berührungspunkte und die Wechselwirkungen unterschiedlicher Entwicklungen sichtbar werden. Ergänzt wird die Historie durch Videoporträts von acht Winterthurer*innen, die erzählen, wie Arbeit und Migration ihre Leben geprägt haben. Im vierten Raum lassen demografische Fakten zur Gesellschaft und Arbeitswelt utopische Gedanken hochkommen. Personen, die bei der Ausstellung mitgearbeitet haben, skizzieren ihre Zukunftsversionen der Schweiz und die Besuchenden werden eingeladen, Gedanken und Gefühle schriftlich zu teilen.

Eine*n ideale*n Besucher*in hatten sie nicht vor Augen, eher einen Grad von Zugänglichkeit der Ausstellung, erklärt Jose. Er führt aus, dass sie diese so gestaltet haben, «dass sich unterschiedliche Personen angesprochen, betroffen und inkludiert fühlen können und Raum haben, sich mit ihrer eigenen Haltung kritisch auseinanderzusetzen» – auch Personen, die dem Thema abgeneigt sind oder gewisse Vorurteile haben. Zudem war es ihnen ein Anliegen, keine Retraumatisierungen bei Betroffenen auszulösen – man denke an die «Überfremdungs»- Initiative oder die Vorgaben des SEM. Inhaltlich mussten sie Abstriche machen. Der Fokus liegt auf Winterthur und die Chronologie setzt 1888 an, als Immigration ein strukturelles Phänomen im damals 40-jährigen Schweizer Bundesstaat wurde. Es ging ihnen auch darum, aufzuzeigen, «dass Migration der Normalfall der Geschichte und eine der grössten Transformationskräfte der letzten 200 Jahre ist», wie Wanda ausführt, «und bewusst die Lücken in der Geschichtsschreibung hervorzuheben». Und Lücken gibt es hierbei viele.

Bei der Recherche war daher Kreativität
gefragt. Sie setzt sich aus unterschiedlichen Quellen zusammen: Erstmal Literatur – wobei Winterthur kein Standardwerk zum Thema Migration und die Stadtchronik nur wenige Seiten zu bieten hat. Dann das Stadtarchiv, wo vor allem die amtliche Seite der Geschichte gut dokumentiert ist und daher viele Informationen und Hinweise in Unterlagen des Arbeitsamts zu finden waren. «Uns war es aber wichtig, diese Geschichte zu migrantisieren und aufzuzeigen, welche Auswirkungen all diese Regulierungen auf die Menschen hatten, die hierhergekommen sind und hier gelebt haben. Wir wollten einerseits nicht verschleiern, dass der Schweizer Staat mit Arbeitsmigrant*innen nicht immer gerecht umgegangen ist», sagt Wanda.

Andererseits war es ihnen wichtig, zu beleuchten, dass diese Menschen «nicht nur ‹Opfer› waren, sondern Akteur*innen, die enorm viel zum Zusammenhalt der Gesellschaft beigetragen haben. Viel Intergrationsarbeit kam und kommt aus migrantischen Communities heraus – so lässt sich die Stelle der Integrationsdelegierten der Stadt Winterthur auf die ‹Paritätische Vereinigung Schweizer Ausländer› zurückführen.» Diese hatte sich als Vorgängerin des Interkulturellen Forums Winterthur für ein gesellschaftliches Miteinander engagiert und als Dachverband migrantischer Vereine agiert. Da solch migrantisches Engagement nicht in den offiziellen Archiven dokumentiert ist, haben die Kurator*innen sich direkt bei migrantischen Vereinen erkundigt. Der dritte Teil der Recherche waren die Videointerviews, die die Ausstellung um subjektive Erzählungen aus der Jetztzeit bereichern. Die Reaktionen der angefragten Personen und Vereine waren unterschiedlich: Für die einen stellte die Mitarbeit eine Art Anerkennung dar, bei anderen brauchte es Überzeugungsarbeit, besonders wenn es darum ging, die Relevanz ihrer Geschichten für die Ausstellung (und somit auch für die Schweiz) aufzuzeigen. Dabei betonen Wanda und Jose die Unterstützung der Reflexionsgruppe, die Kontakte ermöglicht und viel Vermittlungsarbeit geleistet hat. Jose benennt die Stärke an der Zusammenarbeit mit Zeit zeug*innen: «Du schaffst Dokumente und Geschehnisse, die im Stadtarchiv nicht sichtbar sind. So kannst du zumindest aufzeigen, dass es etwas gab.» Nebst dem, dass ein Videointerview mit einer asylsuchenden Person kurzfristig nicht zustande kam, ist den Kurator*innen bewusst, dass die Porträts der Vielfalt der migrantischen Erfahrungen nicht gerecht werden – ebenso wenig wie die Chronologie eine komplette Übersicht bietet. «Darum wollten wir die Ausstellung öffnen, um noch mehr Material sammeln zu können», berichtet Wanda. Die Besuchenden sind eingeladen, im dritten Raum ihre eigenen Migrationsgeschichten zu erzählen und aufnehmen zu lassen sowie auf einer kollektiven Stadtkarte Orte zu kennzeichnen, die für sie von Widerstand, Selbstermächtigung und Solidarität zeugen. 

«Die Ausstellung lebt davon, dass Leutemitmachen», sagt Wanda. Die partizipativen Elemente haben nicht nur den Zweck, die Ausstellung auszuweiten, sie haben auch einen archivarischen Anspruch: Das eingereichte Material wird danach mit den Videointerviews der Sammlung Winterthur übergeben, «um migrantische Geschichte(n) zu bewahren und für zukünftige Forschung zugänglich zu machen». Das von den Kurator*innen zusätzlich lancierte Projekt «Reclaim the Archive» setzt sich zum Ziel, das Bildarchiv der Sammlung Winterthur mit mitgebrachtem Fotomaterial von Besuchenden zu diversifizieren. Um das Projekt niederschwellig zugänglich zu machen, war von den Kurator*innen, die beide jetzt nicht mehr beim Museum Schaffen arbeiten, angedacht, das erwünschte Publikum nicht nur mit Workshops im Museum zu involvieren, sondern es aktiv in ihren Communities aufzusuchen, zum Beispiel in Quartierzentren. Laut Anja Huber vom Führungsausschuss des Historischen Vereins Winterthur (der Museumsträgerin) ist dies zurzeit in Planung. Zudem finden im Museum diverse Veranstaltungen statt – Lesungen, Konzerte und Treffen von Femmes-Tische (moderierte Gesprächsrunden, die sich an Menschen mit Migrationserfahrungen richten). Zu Beginn der Ausstellung hat das Museum eine Vermittlungsgruppe ins Leben gerufen, bestehend aus Personen aus der Reflexionsgruppe und weiteren Personen, die sich mit dem Thema Migration beschäftigen und in Vereinen oder beruflich organisiert sind. Anja berichtet, dass die Ausstellung gut läuft, im Vergleich zu 2023 haben sie aktuell dreissig Prozent mehr Besuchende. Die partizipativen Elemente werden rege benutzt, die Rückmeldungen sind positiv. Da die Ausstellung einsprachig ist – eine Ressourcenfrage; mit Begleitmaterial in Einfacher Sprache (Deutsch Niveau A2) – planen sie mit einer erweiterten Vermittlungsgruppe zurzeit die Umsetzung von Führungen in unterschiedlichen Sprachen.

Geschichte solle nicht als etwas Abgeschlossenes betrachtet werden, sondern «als etwas, was uns helfen kann, die Gegenwart zu verstehen und neue Modelle für die Zukunft zu entwickeln», sagt Wanda. Es scheint, dass der titelgebende Realitätscheck sich durch diese Ausstellung auch ansatzweise in den inneren Strukturen des Museums niederschlägt – und demonstriert, wie eine gemeinsame Annäherung an das Thema Migration aussehen könnte. Wanda und Jose betrachten es kritisch, «dieses sehr grosse Thema in einer Ausstellung abzuhandeln». Ihr Wunsch wäre es, dass «Reality Check!» als Startschuss verstanden und die migrantische Perspektive nicht nur bei zukünftigen Ausstellungen, sondern auch in allen anderen Sphären der Gesellschaft mitgedacht wird. In ihrer Ausstellung bieten sie den Besuchenden neue Perspektiven sowie Werkzeuge, um gemeinsam darüber nachzudenken, was ein neues Wir wirklich bedeuten könnte.

«REALITY CHECK! ARBEIT, MIGRATION, GESCHICHTE(N)»
Die Ausstellung läuft noch bis am 26. Januar 2025 im
Museum Schaffen auf dem Lagerplatz. Mehr Informationen
zum Rahmenprogramm und zu den Führungen gibt es auf
www.museumschaffen.ch.

ALEKS SEKANIĆ

lebt, schreibt und organisiert in Winterthur.

LEA REUTIMANN

ist Fotografin aus Winterthur.

ROMAN SURBER

ist Bildredakteur beim Coucou.

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