Teil 2: Koloniales Erbe, was jetzt?

Die kolonialen Verstrickungen Winterthurs wirken bis in die Gegenwart. Wie wird mit diesem Erbe umgegangen? Medial werden im Zusammenhang mit Kolonialismus oft verschiedene «Wiedergutmachungsmassnahmen» wie Aufarbeitung, Entwicklungszusammenarbeit, Reparationszahlungen, Restitutionen und Reueerklärungen diskutiert. Doch wie sieht die Auseinandersetzung in Winterthur aus? Wer beschäftigt sich mit der kolonialen Vergangenheit und in welcher Form? Diese Fragen stellten sich Hanna Widmer und Amina Mvidie im zweiten Teil des Hintergrundartikels zu Kolonialismus.

Zwei globale Handelsunternehmen, zahlreiche Kulturinstitutionen, national und international agierende Banken und Versicherungen sowie Stiftungen – sie alle gehen aus den geschäftlichen Aktivitäten von Winterthurer Kaufleuten im 18. und 19. Jahrhundert hervor. Geschäftsaktivitäten, die durch den Kolonialismus und dessen ausbeuterischen Praktiken grosse Gewinne abwarfen, zum Florieren der Schweizer Wirtschaft beitrugen und es immer noch tun. Was passiert heute an den Orten, die Winterthurs Kolonialerbe mittragen? Von der Paul Reinhart AG über die Volkart-Stiftung bis zur Stadt Winterthur – wie gehen die verschiedenen Akteur*innen mit diesem Erbe um?

In der Winterthurer Innenstadt, wo die Paul Reinhart AG seit 1788 internationalen Baumwollhandel betreibt, startet die Antwortsuche. Das Unternehmen profitierte unter anderem von ausbeuterischen Produktionsbedingungen in der französischen und späteren britischen Kolonie Ägypten. Ein Gespräch mit dem Coucou-Magazin über den Umgang mit der kolonialen Vergangenheit und der heutigen Verantwortung im Baumwollhandel lehnte das Unternehmen ab – mit der Begründung, dass die historischen Zusammenhänge bereits ausreichend thematisiert wurden. Es liegt nahe, dass es sich unter anderem auf die Arbeiten des Historikers Christof Dejung bezieht. Seine Publikationen gehören zu nur wenigen in diesem Bereich. Der Professor für Geschichte an der Universität Bern veröffentlichte 2013 das Buch «Die Fäden des globalen Marktes», in dem die Geschichte der Winterthurer Handelsfirma Gebrüder Volkart AG im 19. und 20. Jahrhundert aufgearbeitet wird. Am Rande wird auch die Paul Reinhart AG erwähnt. Diese habe er ihm Rahmen seiner Recherche damals für einen Zugang zum Unternehmensarchiv angefragt, welcher ihm verwehrt wurde. Auf Anfrage gab die Paul Reinhart AG heute an, dass das Archiv privat und nicht öffentlich zugänglich sei. Ebenfalls erklärte es, weder Kenntnisse von Herrn Dejung noch von seiner Publikation zu haben.

Und wie sieht es heute mit der unternehmerischen Verantwortung der Paul Reinhart AG aus? Im Baumwollreport von Solidar Suisse aus dem Jahr 2019 wurde es zusammen mit der Genfer Louis Dreyfus SA als Nutzniesserinnen von Kinderarbeit in Burkina Faso beschuldigt. Neun Jahre zuvor war das Unternehmen wegen ähnlicher Vorfälle in Usbekistan in der Presse. Zur aktuellen Situation in Burkina Faso nimmt der Head of Sustainability des Unternehmens wie folgt Stellung: «Wie in unserem aktuellen Nachhaltigkeitsreport auf der Webseite beschrieben, sind wir mit den relevanten Stakeholdern in Kontakt und setzen Projekte vor Ort mit internationalen und lokalen Partnern um.»

In Winterthur hat zudem das global tätige Kaffeehandelsunternehmen Volcafé Ltd. seinen Sitz, das sich in den späten 1980er-Jahren aus der Gebrüder Volkart AG entwickelt hat. Eine Anfrage zur Verantwortung des Unternehmens im globalen Kaffeehandel und zur Sicherstellung menschenwürdiger Produktionsbedingungen blieb seitens des Unternehmens unbeantwortet.

 

Ein Schritt in Richtung Verantwortung

 

Doch wie könnte eine Auseinandersetzung von Unternehmen mit ihrer kolonialen Vergangenheit aussehen? Historiker Christof Dejung sieht die rückwirkende Skandalisierung der Geschäftstätigkeiten von Schweizer Handelsakteur*innen skeptisch. «Wir sind zwar nicht mehr in einer kolonialen Welt, aber wir leben auch heute noch in einer ungerechten Welt, die vom Machtgefälle zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden geprägt ist und daraus Profit schlägt», sagt er und meint damit die Ausbeutung von Mensch und Umwelt, wie sie beispielsweise von Grosskonzernen wie Glencore und H&M betrieben wird. Er sei vorsichtig mit dem moralischen Fingerzeigen, da er ebenso die privilegierten Konsument*innen in der Verantwortung sehe, sich über die Herkunft von Produkten und Arbeitsbedingungen zu informieren. Ein praktischer Lösungsansatz stelle für ihn die Konzernverantwortungsinitiative dar. Diese hatte zum Ziel, eine Sorgfaltspflicht in der Schweizer Verfassung zu verankern, mit der Schweizer Unternehmen gesetzlich zur Einhaltung der Menschenrechte verpflichtet werden sollten. Die Initiative scheiterte 2020 trotz 50,7% Ja-Stimmen am Ständemehr.

 

Zeichen der Dankbarkeit

 

Im Jahr 1951 gründeten Georg, Peter und Balthasar Reinhart zu Ehren des 100. Geburtstags der Gebrüder Volkart AG die Volkart Stiftung. «Nach einem Jahrhundert der erfolgreichen Handelstätigkeit auf dem indischen Subkontinent und Europa» wollten sie damit «ein Zeichen der Dankbarkeit setzen», heisst es auf der Webseite der Stiftung. Die Stiftungsgründung erschien als logische Konsequenz, einen Teil des mit dem Handel erworbenen Reichtums in Form von Förderungsgeldern an gemeinnützige und kulturelle Institutionen zurückzugeben. Die Familie Reinhart betrieb ausgiebig Mäzenatentum – in Winterthur finanzierte sie unter anderem die Kunstsammlung Oskar Reinhart im Römerholz und Stadtgarten, das Fotomuseum und das Musikkollegium. Heute hat sich die Stiftung der Förderung im Bereich Dokumentarfilm, Medien, Ökologie und Soziales verschrieben.

Nichtdestotrotz drängt sich die Frage auf, ob eine Stiftungsgründung als «Zeichen der Dankbarkeit» für eine 100 Jahre lange Geschäftstätigkeit, welche auf ausbeuterischen Produktionsverhältnissen basierte, ausreicht. Inwiefern profitiert der indische Subkontinent davon? Auf die Frage, wo sie ihre Rolle in der Aufarbeitung der Schweizer Kolonialgeschichte sieht, wollte sich die Stiftung aus «ressourcentechnischen» Gründen nicht äussern und verwies auf ihre Zusammenarbeit mit Museen.

Auch die Paul Reinhart AG verfügt über eine Stiftung, die sich der Förderung der

öffentlichen Wohlfahrt und gemeinnütziger Institutionen verschrieben hat. Als

Kontaktperson der Stiftung ist dieselbe Person angeben, die beim Unternehmen die Nachhaltigkeit verantwortet, daher wurde von einer weiteren Anfrage abgesehen.

 

 

Was tut sich in der Politik?

 

Mit dem kolonialen Erbe der Stadt haben sich ein paar wenige Winterthurer Politiker*innen beschäftigt. Mit Bezug auf die Weltkonferenz gegen Rassismus im Jahr 2001 in Durban, wo Entschädigungsforderungen afrikanischer Staaten diskutiert wurde, stellte die AL-Gemeinderätin Anja Peter 2003 eine schriftliche Anfrage. Sie wollte vom Stadtrat wissen, ob eine Aufarbeitung der Handelsbeziehungen von Winterthurer Unternehmen während der Kolonialzeit sowie ihren Verbindungen zum Sklav*innenhandel geplant ist. Als Antwort verwies der Stadtrat damals auf die fehlenden wissenschaftlichen Belege in der Anfrage und die fehlenden «Kompetenzen, Unterlagen, Kenntnisse und Mittel für Nachforschungen oder Bewertungen» seinerseits.

Fast 20 Jahre später fragte der SP-Gemeinderat Markus Steiner an einer Sitzung des grossen Gemeinderats, ob in Winterthur, analog zu Zürich, eine «Entfernung sichtbarer rassistischer und kolonialistischer Zeichen im öffentlichen Raum» geprüft werde. Dabei bezog er sich konkret auf die Liegenschaft an der Marktgasse 60, welche seit der Renovation 2005 die Inschrift «Haus zum M*» trägt. Stadtpräsident Michael Künzle verwies darauf, dass es sich dabei um eine private Liegenschaft handle und ein Kontakt zu den Besitzer*innen hergestellt wurde. Weiter hiess es, dass die Stadt Winterthur im Gegensatz zu Zürich einen anderen Weg eingeschlagen habe: Durch verschiedene kleinere Projekte sollte dem Bedarf eines grossen Projektes auf den Grund gegangen werden. Als kleinere Projekte nannte Künzle die Mitgliedschaft in der europäischen Städtekoalition gegen Rassismus, die «Aktionstage für Respekt und Vielfalt» sowie die Stadtführung des Vereins Kehrseite Winterthur. Beim Verein Kehrseite handelt es sich allerdings nicht um eine städtische Initiative, sondern um einen Zusammenschluss von Winterthurer Historiker*innen, welcher seit 2018 die Führung «Dunkle Geschäfte – Winterthur und der Kolonialhandel» anbietet.

In Künzles Antwort wird ebenso auf das Naturmuseum verwiesen, das an der Aufarbeitung des kolonialen Erbes sei. In dessen kleiner ethnologischer Sammlung finden sich Objekte, welche Winterthurer Kaufleute von ihren Fernreisen in die Kolonien mitgebracht haben. Seit 2005 werden einige davon in der Dauerausstellung unter dem Titel «Souvenirs aus aller Welt» im nachgebauten Fracht- und Passagierdeck der «Ida Ziegler» präsentiert. Mit der Ida Ziegler transportierten Winterthurer Kaufleute ihre Handelsgüter aus den Kolonien, aber auch Erinnerungsstücke wie ausgestopfte Vögel, Kunsthandwerk und Waffen. Beim Besuch der Ausstellung fallen nebst der knarrenden und rauschenden Geräuschkulisse rote Boxen auf. Es handelt sich dabei um «Interventionsboxen» mit Informationstexten, welche, in Zusammenarbeit mit dem Verein Kehrseite, 2021 angebracht wurden und mehr Kontext zu den kolonialen und rassistischen Verhältnissen liefern sollten. Die Museumsdirektorin Daniela Zingg begründete die Anbringung der Boxen gegenüber dem Landboten mit dem gestiegenen Bedarf an Diskussion und Kontextualisierung seitens Besucher*innen. Zu diesem Zeitpunkt lagen der Mord an George Floyd sowie die weltweiten Black-Lives-Matter-Demonstrationen etwas über ein Jahr zurück.

Wo vorher der Zusammenhang zwischen den «Souvenirs» und Kolonialismus nur durch eigenes Wissen hergestellt werden konnte, finden Interessierte heute Erklärungen. In einem Informationstext erfahren sie zum Beispiel, dass die rassistischen Gegenstände, darunter eine «Missionskasse», vom damaligen Kurator dazugekauft wurden, um sie den Schneekugeln in der Ausstellung, welche eine Schweizer Idylle zeigen, ironisch gegenüberzustellen. Ebenfalls wird darauf hingewiesen, dass diese Gegenüberstellung problematisch sei, da rassistische Muster reproduziert werden. Der an der Universität Zürich als ausserordentlicher Professor tätige Anthropologe und damalige Kurator Hans-Konrad Schmutz gibt an, die Objekte für die Ausstellung gewählt zu haben, da sie für ihn den kolonialen und postkolonialen Eurozentrismus widerspiegeln würden.

Beim Naturmuseum ist laut Direktorin Zingg auch Provenienzforschung ein Thema. In der Sammlung finden sich beispielsweise Gegenstände von indigenen Völkern, die von Bernhard Rieter stammen (nicht im direkten Zusammenhang mit der Rieter AG), obwohl er selbst nie in Amerika war. Woher kommen also die Objekte? Wurden sie geschenkt, gestohlen, gekauft oder gar speziell für den Verkauf angefertigt? Für ein kleineres städtisches Museum wie das Naturmuseum stellt sich dabei die Frage nach den personellen und finanziellen Ressourcen. Die ethnologische Sammlung, welche über 2'200 Objekte umfasst, wird von einer Naturwissenschaftlerin mit 20 Stellenprozent betreut. Restitutionsforderungen wurden bisher keine gestellt. Der Fokus liege momentan auf der Digitalisierung der Objekte. Dies sei wichtig, um deren Geschichte und Herkunft besser dokumentieren und nachvollziehen zu können.

Teil 1: 

https://www.coucoumagazin.ch/de/magazin/hintergrund/752228/Teil-1-Baumwolle-Kaffee-und-Kapital.html

 

Amina Mvidie und Hanna Widmer sind Coucou-Autorinnen und sind bei der Recherche auf so viele Spuren gestossen, dass sie leider nicht alle Platz im Artikel fanden. 

Klub Galopp ist ein Zürcher Studio für Animation, Illustration und Grafik und besteht aus Maria Rehli und Nina Calderone.

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