Den Anschluss nicht verlieren
Mitten im Herzen von Töss steht es, trotzig und erfrischend aus der Zeit gefallen: das Zentrum Töss. Wie ein Monolith aus Beton ragt das Wohnhaus 39 Meter in den Himmel der Eulachstadt. Darunter erstreckt sich eine düstere Passage mit diversen kleinen Geschäften, Coiffeursalons und einem Imbissstand. Selbst bei strahlendem Sonnenschein dringt kaum Licht in das Innere der Marktpassage. Einzig die Bilder von saftigen Früchten und frischem Gemüse an der Fassade des Merdan Marktes schaffen einen farbigen Kontrast zum Grau des Sichtbetons.
Während nur ein paar hundert Meter weiter, in der Tössemer Lokstadt, ein Neubau nach dem anderen aus dem Boden schiesst, wirkt das Zentrum Töss heute wie ein Relikt vergangener Tage. Vor rund 50 Jahren jedoch stand es symbolisch für den Aufbruch in die Moderne und den Übergang des ländlich geprägten Töss der späten 1960er-Jahre in ein urbanes Stadtquartier. Mit dem Projekt sollte Töss davor bewahrt werden, den Anschluss zu verlieren und sich zu einem «gesichtslosen Anhängsel der werdenden Grossstadt Winterthur» zu entwickeln, wie die Neue Zürcher Zeitung zur Eröffnung des Zentrums 1970 schrieb.
Turbulente Vergangenheit
Das erste moderne Einkaufszentrum der Stadt sowie der Wohnturm und die Ladenpassage wurden von der Zentrum Töss AG, einem Zusammenschluss der Firma Rieter, der Winterthur Versicherung (die heute zur AXA-Gruppe gehört) sowie der Stadt Winterthur, finanziert. Nach 18 Jahren folgte dann der überraschende Verkauf des Objektes an den bekannten Geschäftsmann Hugo Erb. Dessen Vater legte 1920 mit der Erb-Autogarage in Töss den Grundstein für das Firmenimperium der Hugo Erb AG. Anfangs der 1980er-Jahre begann die Erb-Gruppe, ihr Geschäftsfeld zu erweitern. Sie investierte in Immobilien, handelte mit Kaffee und Holz und mischte in der Baubranche und den Finanzmärkten mit. Die Firma legte einen kometenhaften Aufstieg hin: von der kleinen Autogarage an der Zürcherstrasse, wo heute der Take-24 steht, zu einem international tätigen Unternehmen mit einem im Jahr 2003 berechneten Umsatz von 4,5 Milliarden Franken. In den 1990er-Jahren begann dann der tiefe Fall. Fehlinvestitionen sorgten für grosse Verluste, trotz schlechten Zahlen nahm die Erb-Gruppe, nun unter der Konzernleitung von Rolf Erb, dem Sohn von Hugo Erb, immer weiter Kredite auf. Um an diese Darlehen zu gelangen, manipulierte das Unternehmen seine Bilanzen und verschleierte die horrenden Verluste, die es mittlerweile einfuhr. 2003 meldete die Hugo Erb AG ihren Konkurs an. Mit einem Gesamtverlust von rund 2,5 Milliarden Franken ist die Erb-Pleite bis heute der zweitgrösste Firmenkonkurs der Schweiz nach dem Swissair-Grounding.
Die Schlosshof Immobilien AG, die zur Erb-Gruppe gehörte und das Zentrum Töss sowie rund 100 weitere Immobilien in Winterthur und Seuzach verwaltete, fiel in die Konkursmasse und sollte somit in absehbarer Zeit veräussert werden. Nach Jahren des Rechtsstreits, infolgedessen Rolf Erb wegen Urkundenfälschung und gewerbsmässigen Betrugs zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt wurde, folgte 2017 der Verkauf der Schlosshof Immobilien AG über das Konkursamt Thurgau. Rolf Erb erlebte dies nicht mehr – er verstarb wenige Tage nach der Urteilsverkündung. Zunächst lag der Verdacht auf Suizid, doch wie die Thurgauer Staatsanwaltschaft nach den Untersuchungen mitteilte, erlag Erb den Folgen einer Herzkrankheit.
Neue Besitzer*innen – grosse Erwartungen
Der Verkauf des mittlerweile in die Jahre gekommenen Betonriesens weckte die Hoffnung vieler auf eine Modernisierung des Wohn- und Einkaufskomplexes. In den beinahe 30 Jahren, in denen das Zentrum Töss zum Inventar der Erb-Gruppe zählte, fanden kaum Arbeiten am Gebäude statt. Nachdem der Erb AG das Einrichten einer Konzern-Zentrale im grossen Saal des Zentrums durch eine Klausel im Verkaufsvertrag mit der Zentrum Töss AG untersagt wurde, überliess die Firma das Gebäude weitestgehend sich selbst.
Im Vorfeld des Verkaufs forderte die SP Töss eine «aktive Immobilienpolitik» der Stadt: Wie beim Römertor in Oberwinterthur solle sie das Gebäude kaufen und den für das Quartier wichtigen Ort erhalten und sanieren. Doch dazu kam es nicht. Das Konkursamt Thurgau gab im September 2017 den Verkauf des Objekts an der Zürcherstrasse bekannt. Über den Preis und die neuen Besitzer*innen wurde Stillschweigen vereinbart. Dem Landboten lagen allerdings zuverlässige Informationen vor, dass es sich bei der Käuferin um die Starimmobilien AG aus Zürich handelte. Die Öffentlichkeit wie auch die Bewohner*innen des Zentrums Töss blieben lange im Ungewissen über deren Pläne mit dem Bau. 2 Jahre nach dem Verkauf hatte sich an dieser Situation noch immer nicht viel verändert. Stadtpräsident Michael Künzle sprach im Landboten von einer «Nicht-Kommunikation» der neuen Eigentümerin und auch der Quartierverein Töss zeigte sich ob der Verschwiegenheit der Starimmobilien AG verärgert. Ein Jahr später äusserte sich dann Patrick Isch, Vertreter des Zürcher Immobilienunternehmens, zum ersten Mal öffentlich zum Kauf. Gegenüber dem Landboten sprach er von einem «komplexen Projekt», in welches sie bereits jetzt einen 7-stelligen Betrag für Renovationsarbeiten am und im Haus investiert hätten. Zu konkreten Zukunftsplänen konnte sich Isch zum Zeitpunkt des Interviews vor 3 Jahren nicht äussern. Auch eine aktuelle Anfrage zu diesem Thema blieb unbeantwortet.
Abbruch kaum eine Option
Der Wohn- und Einkaufskomplex aus den späten 1960er-Jahren hat seine besten Tage hinter sich. Er sei ein Platzfresser, ein schmuddeliges Ungetüm, so der Tenor verschiedener Medienberichte. Eine mittlerweile gelöschte Google-Bewertung bezeichnet den Ort als ideale Kulisse für einen Horrorfilm. In einer 20-Minuten-Umfrage vor 5 Jahren belegte es den 6. Platz auf der Liste der hässlichsten Gebäude der Schweiz. Es erstaunt also nicht, wenn immer mal wieder das Gerücht die Runde macht, der Wohnblock und die Ladenpassage sollen abgerissen werden. Eine Vermutung, welche mit Blick auf die stark fortschreitende Gentrifizierung im Quartier durchaus nahe liegt. Ein solches Abrissvorhaben sähe sich allerdings mit grossen bürokratischen Hürden konfrontiert, da das Zentrum Töss seit 2018 von der kantonalen Denkmalpflege im Inventar der Denkmalschutzobjekte von überkommunaler Bedeutung geführt wird. Der Bau mit seinen bemerkenswerten architekturgeschichtlichen Qualitäten gilt als bedeutender regionaler Vertreter des Brutalismus. Zudem ist das Gebäude ein wichtiger Zeuge des wirtschaftlichen Aufschwungs der Nachkriegszeit. Die Einstufung als überkommunales Schutzobjekt sei jedoch mit der Unterschutzstellung eines Baus nicht zu verwechseln, wie Raphael Sollberger von der Denkmalpflege sagt. Der Status bedeute lediglich, dass neben den üblichen Vorgaben eines Baubewilligungsprozesses auch denkmalpflegerische Aspekte berücksichtig werden müssen. Sieht die Denkmalpflege durch das Vorhaben den Schutzcharakter des Objektes beeinträchtigt, müsste definitiv abgeklärt werden, ob das Gebäude unter Schutz gestellt werden soll oder nicht. Dieser Entscheid wiederum obliegt dann der Baudirektion des Kantons. Wenn also Patrick Isch von der Starimmobilien AG von einem «komplexen Projekt» spricht, dürfte er unter anderem auch diese bautechnischen Hürden im Hinterkopf haben.
Angemessen – nicht mehr, nicht weniger
Nur wenige andere Gebäude in Winterthur polarisieren so stark wie das Zentrum Töss. Die Perspektive der Menschen, die im Zentrum leben und arbeiten, gerät dabei oft in Vergessenheit. Einer dieser Menschen ist Slobodan Arsenijevic. Seit 15 Jahren arbeitet er in der Textilreinigung Cleanotec, die sich im Erdgeschoss der Ladenpassage befindet. Zwischen 2010 und 2022 war er nebenbei noch als Hauswart im Wohnblock tätig. Die Spekulationen um einen Neubau kennt er nur zu gut: «Seit ich hier bin gibt es immer wieder Gerüchte darüber, dass es abgerissen werden soll, dass es verschwindet – aber es steht immer noch da und es wird auch noch einige Jahre hier stehen.» Der 60-Jährige wirkt ruhig und pragmatisch, für ihn gebe es keinen Grund zur Aufregung, es werde ja auch immer wieder was saniert. Der Lift, das Dach, sogar die Türen im ganzen Haus seien in den letzten Jahren erneuert worden. Er erlebt das Zentrum als sehr ruhig. Klar gäbe es mal Einbrüche oder einen Diebstahl, dies sei allerdings ganz normal in einem grösseren Zentrum. Der Beton-Komplex mag kein «Bijou» sein, doch darum scheint es Arsenijevic auch nicht zu gehen: «Wenn wir alles abreissen und neu bauen, dann sieht es hier irgendwann aus wie in Dubai und alles wird teurer». Er hält lange inne und sucht nach den treffenden Worten, um seinen Gefühlen Ausdruck zu verleihen. «Das Zentrum Töss ist für mich angemessen.» Aus seiner Antwort lässt sich weder Begeisterung noch Enttäuschung raushören.
Auch Can Cagla verdient ihren Lebensunterhalt im Zentrum Töss. Seit 5 Jahren arbeitet sie im Service des Hotels und Restaurants, welches sich auf dem Parkdeck über der Ladenpassage befindet. Für den Job ist sie von Zürich nach Töss gezogen, in das Hochhaus des Betonkomplexes. Sie würde sich wünschen, dass das Haus renoviert werde. Alles sei hier sehr alt, sagt Cagla. Auf die Frage, ob sie gerne hier wohne, antwortet die 37-Jährige ohne zu zögern: «Nein, ganz sicher nicht!» Ein älterer Herr hört unsere Unterhaltung und ruft: «Weg, abbreche, Zentrum Töss weg, weisch wie alt dä isch?» Der Mann wohnt selbst nicht im Hochhaus, denn dass könnten sich auch jetzt schon nur noch Leute mit genug Geld leisten, sagt er. Auch für Cagla sind die Mieten ein grosses Thema: Diese seien ihr für den Zustand, in dem sich das Haus befinde, auch jetzt schon viel zu hoch. Dazu kämen die Leute hier, die seien alle nicht normal, sagt sie. «Jeden Tag ist hier Action, Junge kommen und schlagen an einem ganz normalen Nachmittag unser Swisslos-Gerät kaputt.» Dann erzählt sie noch von einem Geist, der hier im Hotel angeblich sein Unwesen treiben soll: «Ein Kunde von uns ist kürzlich hier gewesen, er arbeitet für Google. Normalerweise bleibt er für 21 Tage im Hotel. Nach dem zehnten Tag kam er an die Rezeption und erzählte, dass er Stimmen höre und Dinge sehe. Wir dachten, er hätte zu viel getrunken. In den nächsten 4 bis 5 Tagen beschwerte er sich jedoch immer wieder und am 15. Tag checkte er dann frühzeitig aus dem Hotel aus. Das passierte nicht zum ersten Mal, schon mehrere Kund*innen haben uns von Ähnlichem berichtet.»
In den über 50 Jahren, in denen das Zentrum Töss nun schon über dem einst ländlichen Quartier thront, hat sich einiges verändert. Während der Bau des Beton-Kolosses damals auch Ausdruck der Befürchtung war, Töss könnte von der rasanten Stadtentwicklung abgehängt werden, gleicht das Quartier heute einer Spielwiese für Immobilien- und Baukonzerne mit grossen städteplanerischen Visionen. Gleichzeitig ist die Zukunft des Zentrums Töss noch immer ungewiss. Das «komplexe» Projekt scheint nicht der Liebling im Immobilienportfolio seiner neuen Besitzerin zu sein; zu polarisiert ist die Liegenschaft und durch den Status als Schutzobjekt wohl nur mühselig aufwertbar. Heute dient der brutalistische Bau vorwiegend als Projektionsfläche für gesellschaftspolitische Debatten aller Art. Ob das Zentrum Töss nun als Bollwerk gegen die Gentrifizierung romantisiert oder als Schandfleck der Stadt verunglimpft wird – den Menschen, die hier leben und arbeiten, ist mit beidem kaum gedient.