Solinetz Winterthur
Mittwochmorgen, 9 Uhr. Rund 10 Köpfe beugen sich über die Schulbücher. Ein Teilnehmer liest vor. Irgendwas mit Hôtel du Lac. «Du Lac, was heisst denn das?», fragt Lehrer Idris in die Runde. «Lake, also See», sagt jemand. «Sehr gut», meint Idris und schiebt gleich nach: «Achtung, verwirrend: Das englische Wort «sea» wiederum heisst Meer auf Deutsch.» «Ein Meer gibt es aber nicht hier in der Schweiz», ruft jemand. «Wie langweilig», meint eine andere Person. Gelächter erklingt. Die Stimmung im kleinen Raum ist entspannt. Der A1-Deutschintensiv-Kurs vom Solinetz Winterthur macht seinem Namen alle Ehre: Von Montag bis Freitag pauken die Teilnehmer*innen jeden Morgen während rund zwei Stunden im Alten Busdepot. Zusätzlich haben sie auf den nächsten Tag an die drei Stunden Hausaufgaben. «Das ist ziemlich viel Arbeit», meint Idris. Er weiss, wovon er spricht. Vor knapp zwei Jahren ist er selbst aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet. Nebst Französisch spricht er auch fliessend Englisch. Damit schlug er sich im ersten Jahr durch. Erst dann beschloss er, sich Deutsch beizubringen. Zu Beginn machte er das mithilfe von Youtube-Videos, dann wurde er auf die Intensivkurse vom Solinetz Winterthur aufmerksam – und stieg gleich im Niveau B1 ein.
4 von 14 Kursen beim Solinetz sind solche «Geflüchtete unterrichten Geflüchtete»-Kurse. Hier unterrichten fortgeschrittene Lehrpersonen mit Fluchterfahrung Menschen mit einer ähnlichen Biografie. «Anfangs hatte ich fast keine Erfahrung und das Unterrichten war stressig, auch weil ich ja selbst noch am Deutschlernen war und bin», sagt Idris, der Jura studiert hat. Viele Deutschlernende kommen aus der Türkei, Afghanistan, Eritrea, dem Iran, Syrien oder aus der Ukraine. «Es ist für alle schwierig, hier ein neues Leben zu beginnen», meint er.
Die Deutschintensiv-Kurse des Solinetz Winterthur sind schweizweit die einzigen Gratis-Angebote, bei denen Schüler*innen jeden Tag Unterricht haben. Über 80 Freiwillige unterrichten rund 200 Geflüchtete von Alphabetisierung bis C1. «Wir verlangen von den Kursteilnehmer*innen nebst zeitlichem Einsatz auch Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit», sagt Markus Egli, Vizepräsident vom Verein Deutschintensiv Solinetz Winterthur. Nur so hätten sie eine Chance auf die Zertifikate, die sie brauchen: mindestens A2 für ein Härtefallgesuch (ein Gesuch, das eine Person stellt, wenn sie keine andere Möglichkeit hat, zu einer Aufenthaltsbewilligung zu gelangen), sowie B1, B2 oder C1 für Lehre oder Studium.
Pro Schüler*in mit B- oder F-Bewilligung bekommt Solinetz 600 Franken pro Semester von der Stadt, sonst 250 Franken. Für Sans-Papiers gibt es keine Beiträge. Im Gegenteil, da zahlt Solinetz die 9-Uhr-Monatstickets für diejenigen, die ausserhalb von Winterthur untergebracht sind. Hinzu kommen die Mietkosten für die Schulräume im Busdepot und natürlich für Lehrmittel und Infrastruktur. Seit letztem Jahr erhält Solinetz von der Stadt Winterthur einen jährlichen Strukturbeitrag von 10'000 Franken. Doch obwohl alle gut 70 Unterrichtenden und Assistierenden, ausser der Geschäftsleiterin, ehrenamtlich arbeiten, ist Solinetz auf Spenden von Privatpersonen und Stiftungen angewiesen, damit die Rechnung am Schluss aufgeht. Die Tatsache, dass das Busdepot-Areal in zwei Jahren überbaut werden soll und Solinetz noch nicht weiss, ob in der neuen Überbauung wieder Platz für sie sein wird, macht es nicht einfacher. Zwar gibt es neben dem Busdepot noch Schulräume in Kirchgemeindehäusern und dem Nord-Südhaus in der Altstadt, aber das reicht nicht aus für alle Kurse. Nebst Lokalitäten werden auch immer wieder freiwillig Unterrichtende gesucht, weil immer mehr Geflüchtete diese Kurse besuchen möchten.
Markus Egli verfolgt nach Möglichkeit die Lebensläufe seiner ehemaligen Schüler*innen. Es gibt Menschen darunter, die das Warten auf eine Bewilligung fast nicht aushalten, wie ein Mann aus Eritrea, der nach England weitergereist ist und mit dem er immer noch Kontakt hat. Das jahrelange Bemühen um Integration in der Schweiz, ohne sicher zu sein, ob ein positiver Bescheid kommt, sei für viele sehr schwierig. Nichtsdestotrotz sei die Stimmung in den Kursen immer so gut, so fröhlich. Das sind für Markus Egli die schönsten Momente.
Schweizerisches Rotes Kreuz
Auf dem grossen Tisch im Nebenraum der Kirche Turbenthal liegen Karten. «Halsschmerzen» steht drauf, oder auch «Händewaschen». «Holt euch eine Karte mit einem Thema, zu dem ihr etwas sagen könnt», fordert Mirsada die sechs Frauen im Saal auf, die an diesem Mittwochnachmittag gekommen sind. Etwas zögerlich kommen sie nach vorne. Sie drehen die Karten um, lesen und gehen dann wieder an ihren Platz zurück.
«Femmes-Tische» ist ein Angebot des Schweizerischen Roten Kreuzes (SRK) Kanton Zürich. Die Idee dahinter: Ein moderierter Erfahrungsaustausch unter Frauen mit Migrationshintergrund. Mirsada kommt ursprünglich aus Bosnien, lebt aber schon lange in der Schweiz. Sie hat sich beim SRK Kanton Zürich für die Aufgabe als Moderatorin gemeldet und Schulungen besucht. Das Thema heute: «Kranke Kinder begleiten». Mirsada hat die entsprechende Schulung vor drei Monaten besucht und probiert diese nun aus. Eine nach der anderen liest vor, was auf der Karte steht. Was sind die Symptome? Welche Mittel gibt es dagegen? Wann sollte man besser eine*n Mediziner*in aufsuchen? Nach und nach entstehen rege Diskussionen. Dabei fliessen Tipps über Hausmittel mit ein und es wird über viele Erfahrungen mit den eigenen Kindern berichtet.
Sprechsprache in Turbenthal ist Standarddeutsch – was aber eher eine Ausnahme als die Regel ist, wie Nora Lechmann, Standortverantwortliche des Bezirks Winterthur-Andelfingen erklärt: «Normalerweise finden die ‹Femmes-Tische› zuhause bei der jeweiligen Moderatorin oder einer Gastgeberin statt – in deren Muttersprache.» So sollen sich Frauen, die sonst nicht viel sozialen Anschluss haben, austauschen können. Die Moderatorinnen fungieren dabei als Schlüsselpersonen. Sie verfügen über mindestens ein A2-Zertifikat, um mit der Standortverantwortlichen kommunizieren zu können, und sind gut vernetzt in der Gemeinde, in der sie wohnen. Derzeit gibt es im Bezirk 16 Moderatorinnen, die in 14 verschiedenen Sprachen die «Femmes-Tische» moderieren. Inhaltlich decken die Gesprächsrunden Elternbildungsthemen ab: Gesundheit, Bildung, Familie und Integration.
Das SRK Kanton Zürich hat dafür eine Leistungsvereinbarung mit der Geschäftsstelle Elternbildung des Amts für Jugend und Berufsberatung Kanton Zürich. Damit die Gesprächsrunden so niederschwellig wie möglich sind, finden die Runden im privaten Räumen statt – oder auch mal auf einem Spielplatz. Für Kinderbetreuung ist ebenfalls gesorgt.
Während der «Femmes-Tisch» in Turbenthal sich dem Ende zuneigt, werden noch die letzten offenen Fragen geklärt. Mirsada, seit 13 Jahren als Moderatorin tätig, räumt zusammen. Normalerweise lädt sie die Frauen zu sich nach Hause in Seen ein. Ihr geht es darum, dass ein Vertrauen entstehen kann, ein Ort, an dem man offen über alles reden kann – auch über Tabuthemen wie Menstruation oder Eheprobleme. «Das Ziel ist es, dass man sich irgendwann gegenseitig einlädt», sagt sie. Auch wenn viele Frauen sich nicht trauen, andere einzuladen, so sei der Austausch doch für viele ein Lichtblick im Alltag. «‹Femmes-Tische› öffnet mir eine Türe in eine Welt, die mir vorher verschlossen war», sagt eine Teilnehmerin in der Gesprächsrunde.
benevol Winterthur
Jürgmeier (sic!) muss nichts mehr. Nach Abschluss seiner Erwerbstätigkeit hat der Schriftsteller und ehemalige Journalist entschieden, nur noch zu schreiben. Und doch reicht ihm das nicht immer ganz aus. Als er erfahren hat, dass bei benevol Winterthur Freiwillige für Begleitungen von Menschen mit Fluchterfahrung gesucht werden, hat er sich gemeldet. Seit Sommer 2022 begleitet er ein türkisches Ehepaar. Jede Woche treffen sie sich für rund eine Stunde in der Stadtbibliothek, manchmal etwas länger. Worüber im Rahmen dieser Integrationsbegleitungen gesprochen wird, ist völlig offen. Das geht vom Wetter über kulturelle Unterschiede, dem Sammeln von Pilzen bis zum schweizerischen Bildungssystem und zu Texten, die sie gemeinsam lesen und besprechen. Immer wieder sind auch Hürden, mit denen das Paar konfrontiert ist, Thema. Zum Beispiel die Wohnungssuche, die für sie sehr belastend ist. «Nach bald 100 Absagen sind sie verständlicherweise enttäuscht», meint Jürgmeier, der sein Leben lang im publizistischen und sozialen Bereich tätig war. Ihre Unterkunft in einem Heim mit vielen Menschen mache es schwierig, konzentriert für die Deutschintensiv-Kurse zu lernen, die die beiden besuchen. Um hier in der Schweiz in ihren ursprünglichen Berufen als Psychologe und Primarlehrerin arbeiten zu können, bräuchten sie sehr gute Deutschkenntnisse. Die Wohnsituation ist so belastend, dass Jürg Meier sich fragt, wie sich das langfristig auf die Motivation, Deutsch zu lernen und Arbeit zu suchen, auswirkt.
Nebst dieser Integrationsbegleitung leitet Jürgmeier auch einen Sprachtreff in der Stadtbibliothek Winterthur. Jeweils am Dienstagabend zwischen fünf und sechs trifft sich eine zusammengewürfelte Gruppe mit unterschiedlichen Hintergründen im vierten Stock. Expats treffen auf Menschen mit Fluchterfahrung. Die Idee: Ein niederschwelliges Angebot zu entwickeln, bei dem Menschen ihre Deutschkenntnisse praktisch anwenden und sozialen Austausch pflegen können. «Sonst sprechen viele nur in ihrer Muttersprache oder auf Englisch», meint Franziska Baetcke, Leiterin der Winterthurer Bibliotheken. Die Sprachtreffs sind eine Win-Win-Situation: So lernen die Sprachtreffbesucher*innen neben Deutsch je nachdem gleich auch noch das Angebot der Bibliothek kennen und beleben sie. Gleichzeitig bietet sie dem Sprachtreff einen zentralen Raum, um zusammenzukommen. Unterdessen stösst das Angebot auf solchen Anklang, dass die Treffs am Montag, Dienstag und Freitag jeweils gleich doppelt geführt werden – nebst der fortgeschrittenen Gruppe gibt es auch eine für Anfänger*innen.
Zurück im Solinetz
Idris geht herum und dreht die Handys um, mit denen die Teilnehmenden übersetzen wollen. Gemeinsam suchen sie die richtigen Lösungen– «im Hotel einkaufen» geht eher nicht so gut, und «duschen» ist etwas, was man mit Servietten definitiv nicht machen kann. «Heute keine Hausaufgaben!» sagt Idris und alle jubeln. Idris indes düst gleich los – schliesslich muss er noch einen zweiten A1-Kurs unterrichten und sich am Nachmittag auf seine eigene C1-Prüfung vorbereiten.