Treffpunkt für Modeinteressierte
Freitagabend Mitte Juli auf dem Lagerplatz. Das Sternen-Openair ist im Gange. In einer Ecke der Halle 142 sind bunt gemusterte Hemden und Schlaghosen mit Kuhfellmuster an einer Kleiderstange aufgereiht, zwei Festival-Besucher*innen stöbern in einer der Kleiderkisten. Es handelt sich um den Stand von Linda, an dem sie zusammen mit Andri an diesem Abend nicht nur Secondhand-Kleider verkauft, sondern auch solche, die sie selbst abgeändert beziehungsweise upgecycelt hat. Seit 2018 ist die 24-Jäh-rige mit ihrem Kleiderstand immer wieder an Anlässen wie dem Festival «Industria», dem Nachtfloh-markt auf dem Lagerplatz oder auch an der Ausstellung «Winti macht Kunst» im Salzhaus anzutreffen. Vor vier Jahren eröffnete sie zudem an der Oberen Kirchgasse 22 einen kleinen Laden namens Secondo. Der Laden wurde innert kurzer Zeit zum Treffpunkt für junge, an Mode interessierte Menschen,
die meisten zwischen 18 und 24 Jahre alt. «Ein paar hatten Lust zu modeln, andere Interesse am Fotografieren», erzählt Linda. Sie machte das Styling der Models und lieh ihnen Kleider aus. Andri kümmerte sich um Haare und Make-up. Immer mehr Personen stiessen dazu, brachten neue Ideen ein. So fanden bald nicht nur Foto- und Videoshootings im Laden statt, sondern auch kleine Fashion-Events inklusive DJ-Sets. «Es lief etwas und alle, die Lust hatten, konnten mitmachen», sagt Linda. «Der Laden war der ideale Ort, um Dinge einfach mal auszuprobieren und um Erfahrungen zu sammeln.» Andri stimmt ihr zu: «Wenn ich heute als Hair & Make-Up Artist für Brands arbeite, dann muss ich wissen, was ich tue, und kann nicht mehr einfach so mal was ausprobieren. In der professionellen Branche gibt es keine Safe Spaces mehr. Und genau das war der Secondo: ein Safe Space.» Weil sie sich gegenseitig unterstützten, sei zudem vieles machbar gewesen, was eine einzelne Person nicht hätte umsetzen können, erklärt Andri. So wurden zum Beispiel viele der Bilder im Magazin «Like A Girl» publiziert, das von Personen aus dem Secondo-Umfeld gegründet wurde. Als Raum ermöglichte der Secondo den Heranwach-senden, sich ein Netzwerk aufzubauen. Inzwischen haben viele, die damals bei den Shootings und Events mitwirkten, ihre eigenen Wege eingeschlagen.
Ein Raum fürs Theaterschaffen
Freitagabend Anfang Juli im Theatersaal des Kirchgemeindehaus Liebestrasse. Die Erde ist krank. Die Menschen und ihr Verhalten setzen ihr immer mehr zu. Also entschliesst sich die Sonne, Herrscherin aller Planeten, einen Kometen Richtung Erde zu schicken und sie von der Plage befreien. Doch den meisten Menschen scheint die bevorstehende Katastrophe egal: Professor Guck versucht vergeblich, Diktator*innen, Diplomat*innen und Beamt*innen zu überzeugen, ihn bei der Rettung der Erde zu unterstützen. In einzelnen Szenen thematisiert das Stück «Der Weltuntergang» von Jura Soyfer, wie die Menschen auf die Bedrohung reagieren beziehungsweise wie sie aus der Situation Profit zu schlagen versuchen. Die Um-18-Gruppe des Jungen Theater Winterthur (JTW) hat das Stück, welches 1936 geschrieben wurde, mit weiteren, selbst geschriebenen Szenen ergänzt. In ihrer Version machen beispielsweise Reise-büros spektakuläre All-Inclusive-Angebote für die letzte Nacht und Millionär*innen wiegen sich in Sicherheit – bis sie kurz vor dem Aufprall realisieren, dass es gar keinen Flug zum Mars gibt. Es war das erste Mal, dass die angehenden Theatermacher*innen selbstständig und in Eigenregie ein Stück erarbeitet haben. Die Gruppe hatte sich im Herbst 2021 als neue Gruppe des JTW formiert, zuvor waren sie als Schauspieler*innen in der U16-Gruppe des JTW dabei gewesen. Der Verein hat zwar keinen eigenen Spielort, ist aber seit über 20 Jahren eine wichtige Institution für das Theater-schaffen in Winterthur. 1999 wurde das JTW als Theaterlabor für Spieler*innen im Alter von 12 bis 26 Jahren gegründet. Seit 2009 leitet der Verein auch eine U16-Gruppe, die von einer Theaterpädagogin begleitet wird. Normalerweise wechseln die Jugendlichen von der U16-Gruppe direkt in die Erwachsenengruppe. Aber für diesen Schritt waren viele der neuen Um-18-Gruppe letztes Jahr noch nicht parat. «Wir fragten uns, warum es nichts dazwischen gibt», sagt Nadira. Sie hat zusammen mit Tanja die Projektleitung für die Aufführung zu «Der Weltuntergang» übernommen. Das bedeutet, sie schrieben die Szenen des Stücks für die Gruppe um, organisierten die Proben und verteilten die Rollen. «Dadurch, dass wir eine eigene Gruppe bildeten, konnten wir nun selbst Erfahrungen sammeln – aber jederzeit jemanden vom JTW um Unterstützung fragen», erklärt die 18-Jährige. Für Nadira ist die Gruppe wie eine zweite Familie: «Wir kennen uns alle seit mindestens fünf oder sechs Jahren.» Die meisten hätten mit 11 oder 12 Jahren beim JTW angefangen und konnten inzwischen auf einige Jahre Schauspielerfahrung zurückgreifen. Einmal pro Woche trafen sie sich in den letzten Monaten im vom JTW gemieteten Proberaum im Gaswerk und arbeiteten am Stück. «Auch wenn es viel Arbeit ist: Die Proben waren gut, um den Alltag für einen Moment hinter sich zu lassen», sagt Nadira. Schauspieler Franco erzählt, dass für ihn vor allem der Zusammenhalt der Gruppe ausschlaggebend sei, um in der Theatergruppe mitzumachen. «Die Gruppe wird immer lässiger, je mehr wir zusammen machen», betont auch Yara. Theater zu machen und insbesondere der Probe-raum biete ihnen eine Art Safe Space, in dem sie sich austauschen und Ideen ausprobieren können, erklärt die Schauspielerin. Zusammen mit Sebastian hat sie viele der Dialoge für die zusätzlichen Szenen des aktuellen Stücks geschrieben. Nächstes Jahr möchte die Gruppe ein eigenes Stück aufführen, an diesem schreibt Yara zurzeit. «Ich fände es interessant, auch selbst Regie zu führen», sagt die 18-Jährige. Sie könnte sich gut vorstellen, nach dem Schulabschluss Schauspiel zu studieren und später professionell Theater zu machen. «Vielleicht entsteht aus der Um-18 ja auch eine neue, fixe Gruppe, wie das vor ein paar Jahren bei der Theatergruppe ‹Und Gabi war dagegen› der Fall war», bemerkt Yara. Zwar gebe es gerade ein paar, die aufhören möchten – die Gruppe sei aber offen für neue Leute, die Interesse am Theater haben und mitmachen wollen.
Die Ü16-Partyreihe im Salzhaus
Freitagabend Anfang Mai im Salzhaus. Der DJ legt Hits aus den 1980er-Jahren auf. Eine Gruppe verteilt zur Freude der Partygäste Raketen-Glacé. Die Aktion haben die Organisator*innen der «Notuusgang»-Partyreihe geplant. «Kurz nach ein Uhr gibt’s noch-mals eine Überraschung», kündet die Truppe an. Doch kaum sind sie im Backstage, sind sich die 16- und 17-Jährigen nicht mehr so sicher, ob sie diese wirklich umsetzen wollen. «Also ich weiss nicht, Hasan muss dann wegen uns einiges mehr putzen als sonst», wirft jemand ein. «So Glitzerschnipsel vom Boden aufzulesen, stell ich mir mega mühsam vor.» Der Plan, eine Konfettikanone abzulassen, wird vorerst fallen gelassen. Ein Teil der Truppe ist bald wieder auf der Tanzfläche und begrüsst Freund*-innen, die gerade eingetroffen sind.
Die Partyreihe für Ü16-Jährige gibt es im Salzhaus seit 2010. Zuerst fand sie unter dem Namen «Live-it-up» statt, von 2016 bis 2021 hiess sie «Was isch Winti?». Auf Anfang 2022 wurde der Namen zu «Notuusgang» geändert. Das Konzept ist, dass die 16- und 17-Jährigen die Party soweit möglich selbst organisieren. Konkret heisst das, die Jugendlichen kümmern sich um die Deko, die Werbung und um die Eingangskontrolle am Abend sowie um kleinere Aktionen während der Party. Das Salzhaus-Team unterstützt die Jugendlichen, wo sie Hilfe brauchen. Normalerweise stossen neue 16-Jährige dazu, sobald ein Teil der Organisator*innen 18 Jahre alt wird. Wegen der Covid-19-Pandemie gab es allerdings einen längeren Unterbruch, weshalb die Gruppe die Organisation der Partyreihe übernommen hat, ohne vorher je an einer Ü16-Party gewesen zu sein. «Wir hatten selbst noch keine Erfahrung und konnten auch nicht unseren Vorgänger*innen über die Schulter schauen. Das war schon eine Herausforderung», sagt Joel. Er ist über das Projekt Kulturstifter dazugestossen. Gian kam über seine Schwester, die in einem der OnThur-Clubs und fürs Akzent-Klubfestival arbeitet, dazu. Der Rest der neunköpfigen Gruppe besucht die gleiche Klasse im Rychenberg. «Wir sind also gerade noch vieles am Lernen», sagt Gian. Er betont, dass sie im Salzhaus aber nicht nur Erfahrung, darin sammeln, wie man einen Anlass organisiert, sondern auch ihre Grenzen kennenlernen können: «Man lernt, Verantwortung zu übernehmen, nicht
zu viel zu trinken und sich unter Kontrolle zu halten.» Es sei für sie eine «mega Gelegenheit», bestätigen auch die anderen. Viele der früheren Ü16-Party-Organisator*innen arbeiten heute im Salzhaus an der Bar oder in der Produktion – sie hoffen deshalb, später auch mal neben dem Studium im Club jobben zu können.
Der Stadtpark – Ein Ort zum Sein
Freitagabend Mitte Juli im Stadtpark. Mehrere Gruppen von Jugendlichen sitzen verteilt im Park, einige haben Bier, andere Cola-Dosen und Orangensaft dabei, die sie mit Wodka mischen. Abends zusammen unterwegs zu sein, gehört zum Teenageralter dazu. Doch nicht alle können sich einen Besuch in einem der Clubs leisten. «Wir wollten eigentlich nach Zürich», sagt Dorci. Das Geld hätte nur für die Fahrt von Frauenfeld nach Winti gelangt. «Ich verdiene nur 900 Franken pro Monat», ruft Cassandra dazwischen. «Stellen Sie sich das mal vor. Das ist der Lohn im letzten Lehrjahr als KV-Lernende bei einer Immobilienfirma.» Über ihr Telefon lassen die Jugendlichen Latin, Hiphop, Reggae laufen und dazwischen auch mal ein Tiktok-Video. Sie seien oft am Bodensee, «hängen dort auf einem Boot eines Bekannten ab», erzählt Eduardo, der gerade eine Lehre als Hauswart macht. An diesem Abend sei es der Stadtpark, beziehungsweise die Treppe beim Kunst Museum, auf der die Freund*innen aus Frauenfeld für ein paar Stunden verweilen und den Sommerabend ausklingen lassen. «Ich muss morgen arbeiten», bemerkt Dorci. Sie müsse deshalb schon bald auf den Nachtzug und könne nicht mehr allzu lange bleiben.
Im Stadtpark soll es oft Schlägereien geben. Dass der Park keinen guten Ruf habe, erwähnt auch die Gruppe aus Frauenfeld. Doch an diesem Abend ist es ruhig. Eine Person ruft kurz etwas Unverständliches zu einer Gruppe hinüber. Niemand reagiert. Die Person geht lallend und leicht torkelnd weiter. Man kann sich vorstellen, dass so eine Situation auch mal zu Konflikten führen kann – je nachdem, wer wie reagiert. Ein Ort für Jugendliche ist der Stadtpark sicherlich nicht, aber dennoch halten sich viele verschiedene und vor allem junge Menschen hier auf. Warum sind sie gerne im Stadtpark? «Wir laufen einfach herum», antwortet Rifat. Er ist mit fünf Kollegen unterwegs, die er aus dem 10. Schuljahr kennt und die eine Lehre im Detailhandel und in der Gebäudereinigung machen. «Wir wollten grad rüber zum Kiosk an der Theaterstrasse, bevor er schliesst», sagt der 17-Jährige. Die sechs Jungs würden sich oft im Stadtpark aufhalten. «Klar, es wäre schön, wenn wir einen eigenen Raum hätten, wo wir uns treffen könnten», sagt Leo. Aber sie hätten keine Möglichkeiten, sich so einen Raum zu mieten. «Der Stadtpark ist einfach da, hier können wir einfach
sein, ohne dass uns jemand wegschickt», sagt Rifat. Und da sie aus Töss und Sennhof seien, sei es ideal, dass der Stadtpark genau in der Mitte liege.