Sollte es nicht selbstverständlich sein, dass jeder Mensch eine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit erleben kann? Für viele Kinder ist das aber leider nicht der Fall, und ihr Wohl wird von jenen gefährdet, die eigentlich für sie verantwortlich wären. Rechtlich gesehen versteht man unter Kindeswohlgefährdung die Beeinträchtigung einer gesunden Entwicklung des Kindes aufgrund von Vernachlässigung und/oder körperlicher, psychischer oder sexueller Gewalt durch Eltern oder Erziehungsberechtigte. Staatliche Eingriffe durch die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) kommen dann zum Tragen, wenn das Wohl des Kindes nicht mehr gewährleistet ist. Ein möglicher Eingriff zum Schutz des Kindes kann dann so aussehen, dass die Kinder oder Jugendlichen in einem Heim oder in einer Pflegefamilie platziert werden. Ein grosser Anteil derer, die ins Heim kommen, hat eine traumatische Vorgeschichte. Bislang wird in keiner Statistik erfasst, wie viele Kinder in der Schweiz in einem Heim oder bei einer Pflegefamilie aufwachsen.
Neben der Gesellschaft tanzen
Ein «typisches Heim- oder Pflegekind» gibt es nicht. Jedes ehemalige Heim- oder Pflegekind hat eine eigene Geschichte. Das hindert manche aussenstehende Menschen jedoch nicht daran, sich vorschnell ein Bild zu machen. Julia hat das selber auch gemerkt. Die 19-Jährige hat eineinhalb Jahre im «T-Home» der Quellenhofstiftung in Winterthur gelebt. Aufgrund ihrer Geschichte hat sie auch unschöne Reaktionen erlebt. «Wenn ich meine Biografie erzähle, erschrecken einige Menschen», erzählt Julia beim Gespräch in einem Winterthurer Café.
Als Kind musste Julia die Verantwortung für sich selbst übernehmen. Die Anfangszeit im Heim war für sie schwer, doch mit der Zeit konnte sie erfahren, wie es sein kann, umsorgt zu werden und sich unbeschwert fühlen zu können. Dass Julia keine unbeschwerte Kindheit und Jugendzeit in ihrer Herkunftsfamilie erlebt hat, macht sie traurig. Jedoch stört es sie heute nicht mehr, dass sie eine Geschichte hat, die sie von Gleichaltrigen unterscheidet. «Du darfst neben der Gesellschaft tanzen. Anders zu sein ist nicht gleich schlecht.» Derzeit macht sie eine Lehre als Fachfrau Gesundheit. Nach ihrer Ausbildung möchte die Winterthurerin anderen Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit ähnlichen Lebensgeschichten helfen.
Wenn die eigene Familie fremd ist
Auch Rose Burri kam als kleines Mädchen in ein Heim, wurde zurück in ihre Familie platziert, lebte später als Jugendliche in einer Pflegefamilie und kam dann wieder in ein Heim. In der Quellenhof-Stiftung absolvierte sie die Lehre als Kauffrau und bildete sich in der Sozialen Arbeit weiter. Heute arbeitet die 33-Jährige als Sozialbegleiterin im Selbsthilfezentrum Winterthur.
Als Heimkind verbrachte Rose eine schöne Zeit, daher möchte sie auch nicht von einer «Fremdplatzierung» sprechen: «Ich fühlte mich in meiner Familie fremd – nicht im Heim oder in der Pflegefamilie.» Dennoch ist Rose mit Stigmatisierung und Vorurteilen aufgewachsen, weshalb sie ihre Biografie lange Zeit für sich behalten hat. Das änderte sich erst, als sie bei einem Forschungsprojekt der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) andere Careleaver*innen kennen lernte. Zusammen gründeten sie letztes Jahr den Verein «Careleaver Schweiz». Der Verein vertritt die Anliegen von Careleaver*innen und Heim- und Pflegekindern gegenüber der Politik und der Gesellschaft. Rose hat zurzeit das Amt der Präsidentin inne.
Schutz bis zum 18. Geburtstag
Mit der Volljährigkeit oder nach Ausbildungsabschluss endet in den meisten Kantonen die gesetzliche Kinder- und Jugendhilfe. «Von heute auf morgen haben die Careleaver*innen oftmals keine Unterstützung mehr und Aspekte von Schutz und Sorge enden ebenso», sagt Rose. Careleaver*innen stehen ab dann plötzlich vor einer Reihe an Herausforderungen: selbstständiges Wohnen, finanzielle Schwierigkeiten, die Übernahme von administrativen Aufgaben oder der Abschluss einer beruflichen Ausbildung. Während Menschen, die nicht in Heimen und/oder Pflegefamilien aufgewachsen sind, nach ihrem 18. Geburtstag vielleicht noch auf Unterstützung ihrer Familie zählen können, sind Careleaver*innen auf sich alleine gestellt. In dieser Phase wünschen sich die jungen Erwachsenen Angebote und Unterstützung. Doch die Situation sei unbefriedigend, da den Careleaver*innen immer noch zu oft viele Steine in den Weg gelegt würden.
Das Recht auf Partizipation
Kinder und Jugendliche weltweit haben Rechte. So steht es in der UN-Kinderrechtskonvention festgeschrieben, die die Schweiz 1997 anerkannt hat. Artikel 18 gewährt dem Kind das Recht auf Partizipation. Kinder und Jugendliche haben das Recht, in Entscheidungen einbezogen zu werden, von denen sie betroffen sind; ebenso haben sie das Recht auf Information, auf Anwesenheit und freie Meinungsbildung und -äusserung sowie das Recht, gehört zu werden. Wenn die Erwachsenenwelt über Kinder und Jugendliche entscheidet, ohne bei ihnen nachzufragen oder sie einzubeziehen, kann daraus ein Ohnmachtsgefühl bei den Kindern und Jugendlichen entstehen, was für diese sehr prägend sein kann. Eine Studie des Schweizerischen Kompetenzzentrums für Menschenrechte (SKMR) hat festgestellt, dass dass der Einbezug der betroffenen Kinder und Jugendlichen ungenügend ist. Die SKMR empfiehlt einen systematischen Einbezug von Kindern und Jugendlichen in allen Fragen, die ihr Leben betreffen. Dazu gehören niederschwellige, lokale Beschwerde- und Anlaufstellen sowie kindergerechtes Informationsmaterial und die Stärkung von Jugendparlamenten.
In der Schweiz gibt es kein nationales Kinder- und Jugendhilfegesetz. Geregelt wird es von den entsprechenden Kantonen und Behörden. Der Verein «Careleaver Schweiz» fordert, dass sich auf gesetzlicher Ebene etwas ändert und Gesetzeslücken geschlossen werden. Gemeinsam mit der SP-Nationalrätin Sarah Wyss hat der Verein deshalb klare politische Forderungen entwickelt und in der Herbstsession 2021 zwei Vorstösse eingereicht. Im ersten Vorstoss wird eine national einheitliche statistische Erfassung von Careleaver*innen gefordert. Im zweiten Vorstoss soll der Bundesrat ein Konzept erstellen, der Careleaver*innen bis zum 25. Lebensjahr oder bis zum Abschluss der Erstausbildung den Lebensunterhalt finanziell sichert, ohne dass Sozialhilfe-Gelder zurückbezahlt werden müssen. Zudem wurde eine Online-Petition lanciert, die für die ganze Schweiz einen «Careleaver-Status» fordert. Mit diesem Status sollen die Hürden zwischen Ämtern und Careleaver*innen abgebaut und Chancengleichheit ermöglicht werden. Ende 2021 wurde ausserdem eine Kampagne lanciert mit dem Ziel, die Gesellschaft auf die Situation und die Anliegen der Careleaver*innen in der Schweiz aufmerksam zu machen. Auch auf lokaler Ebene wurde die Forderung nach einem Sicherheitsnetz gehört. Anfang dieses Jahres wurde eine Interpellation vom Winterthurer Stadtparlament eingereicht. Es ist der erste Vorstoss bezüglich «Leaving Care» auf kommunaler Ebene. Seit dem 1. Januar 2022 ist im Kanton Zürich zudem das neue Kinder- und Jugendheimgesetz in Kraft. Neu kann die Jugendhilfe bis zum 25. Geburtstag verlängert werden, wenn der Antrag von den Betroffenen vor dem 18. Geburtstag gestellt wird.