Etwas mulmig ist mir schon zumute, als ich kurz vor 21 Uhr abends auf dem Bahnhofplatz ankomme. Schon am Freitagabend fielen mir die Absperrgitter auf, um den Zugang in die Marktgasse, in die Stadthausstrasse und zur Bahnhofunterführung abzusperren. Am frühen Samstagabend wurde der Pilz gerade mit gelben Brettern verkleidet, als ich mich vom Einkaufen auf den Weg nach Hause machte. Bereits am Nachmittag waren im Stadtbus Durchsagen zu hören, dass Reisende den Bahnhofplatz ab 21 Uhr meiden sollten. Mein Blick schweift über den Bahnhofplatz. Viele Leute tummeln sich bei den einzelnen Bushaltestellen und am Stadttor – es sind etwas mehr als an einem normalen Wochenende. Ich gehe über den Platz, treffe auf Freunde und beobachte das Geschehen – schliesslich bin ich mit der Absicht hier, eine Reportage über den Tanzumzug der Veranstaltung Standortfucktor zu schreiben. Immer mehr, vor allem junge Menschen, versammeln sich am Bahnhof, viele blicken etwas überrascht umher. Einer fragt seine Kollegen: «Du, was ist denn hier los? Was sollen die Absperrungen?» Auf dem Dach des Bahnhofs sehe ich, wie sich ein Polizist hinter den Geranien-Töpfen versteckt und das Geschehen ebenfalls beobachtet. Es ist 21 Uhr. Von der Milchrampe her kommt eine Gruppe junger Frauen, die einen Polterabend feiert. Zwei Frauen eilen von Gruppe zu Gruppe und verteilen Flyer – für eine Party im Industriequartier in der Grüze. Etwas ratlos stehen die einzelnen Grüppchen zusammen. Was passiert denn nun? Gibt es eine Durchsage? Gibt es irgendwo Musik? Nichts. Minuten vergehen. Die Leute begrüssen einander, plaudern. Einige entscheiden sich, weiterzuziehen – Richtung Innenstadt oder Richtung Archbar, Zimmer 31, Bolero, Salzhaus oder Kraftfeld.
Es ist 21.05 Uhr. Plötzlich spielen sich filmreife Szenen rund um den Bahnhofplatz ab. Von allen Seiten fahren Kastenwagen der Stadtpolizei und der Kantonspolizei vor und sperren sämtliche Zugänge zum Bahnhofsplatz ab. Ich blicke irritiert umher. Habe ich jetzt gerade etwas verpasst? Etwa 400 Leute stehen noch immer friedlich beisammen. Warum also schreitet die Polizei ein? Anfangs September meinte Polizeikommandant Fritz Lehmann im Interview noch: «Wenn es grobe Störungen gibt, dann werden wir Massnahmen ergreifen und einschreiten.» Die Aufgabe der Polizei sei es, für die Sicherheit am Bahnhof zu sorgen, das heisst auch zu verhindern, dass es zu Unfällen kommt. «Nicht Repression steht im Vordergrund der Arbeit der Polizei, sondern das Regeln des Zusammenlebens einzelner», antwortete er mir auf meine Frage, wie die Stadtpolizei denn nun auf den angekündigten Tanzumzug reagieren würde.
Die Szenen, die sich gerade rund um den Bahnhofsplatz abspielen, sprechen da allerdings eine ganz andere Sprache. Ich sehe keine grobe Störung. Innert weniger Minuten ist der ganze Bahnhofsplatz eingekesselt. Von der Milchrampe fährt ein Wasserwerfer auf die Versammelten zu. Ich gehe Richtung Archöfe, um mir ein Bild von der anderen Seite zu machen. Auch hier hat die Polizei sämtliche Wege abgeriegelt. Die Technikumstrasse ist für den Verkehr gesperrt. Die Polizisten scheinen niemanden rauszulassen. Einige Junge beginnen zu fragen, was das soll? Von dem illegalen Tanzumzug haben sie bis jetzt nichts gewusst. Sie wirken verärgert, ein paar beginnen «Fuck the Police» zu rufen. Der Rest steht friedlich zusammen, diskutiert über das schnelle Vorrücken der Polizei – viele sind überrascht und enttäuscht. «Nicht mal eine Chance geben sie uns, zu zeigen, dass der Tanzumzug friedlich hätte ablaufen können», sagt jemand. Dass es demnächst zu eskalieren droht, scheint klar. Die Frage ist nur, wer zuerst provoziert. Jemand erzählt mir, dass er vorher kurz beim Neumarkt vorbeikam. Die Kastenwagen hätten dort zum Einsatz bereits gestanden. Es ist inzwischen 21.25 Uhr. Der Einsatzleiter der Stadtpolizei wagt sich mit einem Megafon auf den Bahnhofsplatz und beginnt mit einer Durchsage. Was er sagt, geht im Pfeifkonzert der Versammelten unter. Das Wort «Auflösen» dringt so knapp durch. Die Versammlung auflösen? Ja, aber wie denn, wenn mehrere hundert Personen eingekesselt sind und den Kessel nicht verlassen dürfen? Rufe wie «Was soll das?» sind von überall her zu vernehmen. Noch immer ist es friedlich, auch wenn die Stimmung langsam merklich kippt. Unter dem Pilzdach beginnen ein paar Fussball zu spielen. Weiter vorne Richtung Archhöfe ertönt Musik aus ein paar Boxen, einige Menschen tanzen.
Es ist circa 21.40 Uhr. Viele scheinen genug zu haben und wollen Richtung Archbar hinaus aus dem Kessel. Polizisten in Kampfuniformen versperren ihnen den Weg. Was sich genau an vorderster Front abspielte, ist von weiter hinten nicht zu sehen. Plötzlich sind laute Rufe und Pfiffe zu hören. Es knallt. Erste Petarden werden abgefeuert. Ein Tränengas- oder Pfefferspraynebel hängt in der Luft. Meine Augen sind gereizt. Ich weiche zurück und beobachte das Geschehen von weiter hinten. Viele beginnen über das Fussgängergitter bei der Unterführung zu klettern und befinden sich plötzlich zwischen zwei Polizeifronten. Ein Wasserwerfer wird auf dem Platz der Archhöfe in Position gebracht. In den Wohnungen in den Archhöfen schauen die Mieterinnen und Mieter gespannt aus den Fenstern. Unten im Restaurant hat es ebenfalls Schaulustige, die dem Treiben auf dem Platz gespannt folgen. Auf der Technikumstrasse tanzen inzwischen immer mehr Menschen. Unter dem Pilz spielen ein paar Fussall miteinander. Hinten beim Stadttor ist die Polizei mit ihren Absperrgittern weiter vorgerückt und treibt die Versammelten zusammen.
Es ist 21.50 Uhr. «Das ist eine Polizeimeldung» erklingt es aus Lautsprechern. Bis um 22 Uhr soll sich die Versammlung auflösen, ansonsten räumen sie den Platz. Ziel scheint es tatasächlich zu sein, die Veranstaltung im Keim zu ersticken. Die Situation vor der Archbar hat sich etwas beruhigt. Ratlos stehen die Leute – es sind vielleicht noch 200 – zusammen. Mindestens genauso viele Polizsiten stehen um sie herum. Einige erkundigen sich, ob man denn überhaupt hinauskomme. Fotografen eilen umher, fotografieren die Polizisten und die tanzenden und fussballspielenden Menschen. Immer mehr klettern über das Gitter, um beim Durchgang zwischen Archbar, Zimmer 31 und Salzhaus aus dem Kessel hinauszukommen. Die Polizisten lassen sie gewähren. Um 22 Uhr eilen sie nach hinten Richtung Vogelsangstrasse. Auch der Wasserwerfer fährt rückwärts weg von dem Platz vor den Archhöfen. Ich mache mich ebenfalls auf Richtung Archbar. Weiter hinten vor dem Stadtwerk haben sich bis zu 2000 Menschen versammelt. Auf einem Lieferwagen steht in grossen Buchstaben «Bar». Aus einem anderen Wagen spielen ein paar Musik ab. Davor stehen Menschen und tanzen. Weiter oben auf der Strasse steht ein weiterer Wagen. Eine Band beginnt gerade zu spielen, als ich mich ihm nähere. Der Plan war wohl, die Vogelsangstrasse entlang zu gehen, Richtung Töss. Allerdings hat die Polizei die Strasse weiter oben abgeriegelt und fährt den Versammelten von zwei Seiten mit einem Wasserwerfer entgegen. Einige Vermummte mit einem Transparent fangen die Gummischrott-Petarden ab.
Beim Parkplatz hinten beim Salzhaus und dem Bolero formiert sich eine weitere Gruppe Polizisten in Vollmontur. Innert kürzester Zeit ist die Versammlung wieder von allen Seiten eingekesselt. Auch wenn einige der Leute aus dem Kessel hinaus wollen, die Polizisten schicken sie wieder zurück in den Tumult.
Inzwischen ist 23.30 Uhr. Einige der Versammelten holen die Absperrgitter vor dem Salzhaus und stellen sie den Polizisten in den Weg – wohlwissend, dass es nicht mehr lange dauern kann, bis die Polizisten einschreiten und die Situation eskaliert. Die Wasserwerfer setzen sich in Bewegung. Die vorher fröhlich tanzende Masse springt in Panik auseinander, zurück Richtung Zimmer 31, wo es mehr Raum hat. Allerdings ist die Gasse am Ende von Polizisten ebenfalls abgeriegelt. Ein paar Flaschen fliegen. Gleichzeitig setzt die Stadtpolizei Winterthur und die Kantonspolizei von beiden Seiten her die Wasserwerfer ein. Gummischrott fliegt. Tränengasnebel häng in der Luft. Rote Fackeln werden geworfen. «Schützt eure Augen!», höre ich Rufe von überall her. Ich flüchte ebenfalls, zurück Richtung Salzhaus. Mit etwas Glück lässt mich jemand in den Backstagebereich des Clubs. Ich spähe durch ein Fenster hinaus. Drausen spielen sich fast schon Kriegsszenen ab. Vermummte versuchen die Polizei zurückzuhalten. Unbeteiligte flüchten nach hinten. Die Polizisten stürmen nach vorne, Gummischrott fliegt durch die Luft. «Schützt eure Augen!», rufen einige der angeblichen Demonstranten immer wieder. Nach nicht einmal zwei Minuten sind rund 400 Personen eingekesselt vor dem Zimmer 31. Einige tanzen und singen, an der Front schirmen sie sich mit Transparenten ab. Ich habe inzwischen den Backstage wieder verlassen und stehe nun hinter der Polizei zusammen mit anderen Menschen, die vollkommen entsetzt sind, dass die Kantonspolizei in Vollmontur auf die tanzende Menge losfeuert! Fassungslos schreien viele die Polizisten an, den Tränen nahe. Die Polizisten weisen sie zurück, drohen sie festzunehmen. Das Spektakel zieht sich hin. Die Eingekesselten leisten keinen Wiederstand, versuchen sich ab und zu den Polizisten zu nähern und weichen wieder vor der nächsten Gummischrott-Ladung zurück. Dann um etwa 24 Uhr fahren einige Kastenwagen mit Blaulicht davon Richtung Altstadt. Anscheinend kommt es dort zu weiteren Ausschreitungen oder Sachbeschädigungen. Ich weiss es nicht. Beim Bermudadreieck hat sich die Situation etwas entschärft. Die Polizei hat den «Demonstranten» angeboten, einzeln über die Balustrade hinauszukommenund ihren Ausweis vorzuzeigen. Das Angebot nehmen die Tanzenden im Kessel gerne an. Gut eineinhalb Stunden dauert es allerdings, bis die meisten draussen sind. Die Polizei nimmt einzelne Personen fest, darunter auch einen Winterthurer Gemeinderat. Weitere Kastenwagen fahren um halb 2 Uhr heran, immer mehr Polizisten in Kampfmontur drängen in die Spalte. Dann ertönen wieder die Lautsprecher: «Eine Mitteilung der Polizei: Setzen Sie sich auf den Boden oder wir nehmen Sie fest!» Die Menschenmasse, noch immer tanzend, drängt sich zusammen und singen «Hei cho, Hei cho, Hei cho, eis ad Ohre und denn ohni z’Nacht is Bett!» Die Polizei meldet sich ein weiteres Mal zu Wort: «Wenn Sie anständig sind, dürfen Sie nun einzeln herauskommen». Die tanzenden und singenden Personen gehorchen, und werden einzeln hinausgeführt. Dann um etwa 2.30 Uhr ziehen die Wasserwerfer und Polizisten langsam ab. Die Putzmaschinen tauchen auf. Keine Stunde später sieht es aus, als ob nichts gewesen wäre... Ich lese die ersten Medienberichte auf «20min.ch» und «Tagesanzeiger.ch». Von gewaltsamen Ausschreitungen ist die Rede. Frühmorgens kommt dann das Mediencommuniqué der Polizei: Mehrere hundert Personen hätten sich gegen 21 Uhr beim Bahnhofplatz versammelt, schreiben die Stadtpolizei Winterthur und die Kantonspolizei. Sie hätten den Bahnhofplatz abgesichert. Ausserdem griffen nach Polizeiangaben die Demonstranten die Einsatzkräfte gewaltsam an, worauf diese Gummischrot und Wasserwerfer einsetzten. Und ich schreibe, kaum zuhause angekommen, das Erlebte nieder, mich fragend, was da gerade passiert ist.
Veröffentlicht am 22. September 2013 um 10 Uhr.