Villa Flora

Wer bestimmt, was in Vergessenheit gerät?

«Wohlbehütet – Wertgeschätzt» zeigt die Werke vergessener Künstler aus Winterthur. Ein Gespräch mit Kuratorin Lucia Angela Cavegn über die Bedeutung von lokaler Kunst.

Giulia Bernardi: «Wohlbehütet – Wertgeschätzt» ist eine zweiteilige Ausstellung in der Villa Flora, in der Sie Winterthurer Kunst aus Winterthurer Privatbesitz zeigen. Inwiefern unterscheiden sich die zwei Teile?

Lucia Cavegn: Im ersten Teil waren Künstlerinnen und Künstler vertreten, die im 19. Jahrhundert oder vor 1905 geboren wurden. Der zweite Teil widmet sich hingegen denjenigen, die nach 1905 geboren wurden.

GB: Wieso interessieren Sie sich ausgerechnet für regionale Kunst und dazu noch für verstorbene Kunstschaffende?

LC: Viele Kunstinstitutionen sind stark international ausgerichtet. Regionale Künstlerinnen und Künstler werden eher selten gezeigt. Wenn eine Künstlerin oder ein Künstler von regionaler Bedeutung stirbt, sind ihre beziehungsweise seine Chancen auf eine posthume Ausstellung sehr gering. So war es zumindest in den vergangenen Jahrzehnten in Winterthur. Dabei frage ich mich: Haben wir nicht eine moralische Verpflichtung gegenüber dem lokalen Kulturerbe? Wie geht man damit um? Was passiert mit den Werken von Winterthurer Künstlerinnen und Künstlern nach deren Ableben? Mit «Wohlbehütet – Wertgeschätzt» wollte ich eine populäre Ausstellung schaffen, in der zur Abwechslung regionale Kunst zu Ehren kommt.

GB: In der Ausstellung werden mehrheitlich Werke gezeigt, die vor 1970 entstanden sind. Wieso beschränken Sie sich dabei auf das vergangene Jahrhundert? Wieso bieten Sie nicht auch eine Plattform für Künstlerinnen und Künstler der Gegenwart?

LC: Für Winterthurer Gegenwartskunst gibt es Plattformen wie beispielsweise die jährlich wiederkehrende Dezember-Ausstellung im Kunstmuseum Winterthur. Winterthurer Kunst, die vor 1970 entstanden ist, muss man hingegen suchen. Man findet sie beispielsweise in Altersheimen oder im Restaurant Goldenberg, nicht aber im musealen Kontext.

GB: Inwiefern ist es von Bedeutung, dass alle in der Ausstellung gezeigten Werke aus Winterthurer Privatbesitz stammen?

LC: Die Bedeutung des privaten Kunsterwerbs liegt darin, dass Kunstschaffende ihre Werke verkaufen können und damit einen Beitrag an ihre Existenz geleistet wird. Früher erhielten die Winterthurer Künstlerinnen und Künstler immer wieder Porträtaufträge. Es war mir deshalb ein Anliegen, möglichst viele Porträts von Leihgeberinnen und Leihgebern zu zeigen. In der Regel haben die Privaeigentümer einen emotionalen Bezug zu ihrem Kunstbesitz. Meist haben sie die Künstlerin oder den Künstler persönlich gekannt und können Geschichten zu den Bildern erzählen, die in ihren Wohnräumen hängen oder allenfalls auf dem Dachboden oder sonst wo lagern. Der private Kunstbesitz trägt zum Andenken an verstorbene Künstlerinnen und Künstler bei und bildet den damaligen Zeitgeschmack ab.

GB: Weshalb gerieten diese Künstlerinnen und Künstler überhaupt in Vergessenheit?

LC: Weil die wenigsten nach ihrem Ableben noch ausgestellt wurden. Und wenn, dann vor allem durch ihre Nachkommen, nicht aber im musealen, institutionellen Rahmen. Die Kunstschaffenden, deren Werke im ersten Teil ausgestellt wurden, sind – da früher verstorben – stärker in Vergessenheit geraten. Kaum jemand weiss noch, dass es einen Oscar Ernst oder Jakob Herzog gegeben hat. Die Künstlerinnen und Künstler vom zweiten Teil sind einer älteren Generation von Kunstliebhabern noch eher bekannt. Man kannte sie, erlebte sie noch an Vernissagen. Wird dieses Kulturerbe nicht gepflegt, gerät es in Vergessenheit. Wenn die Privatbesitzer von Kunst sterben, wissen die Erben oft nichts damit anzufangen. Nicht selten landen die Bilder im Brockenhaus.

GB: Erst letztes Jahr fand zum Jubiläum der Künstlergruppe Winterthur die Ausstellung «100 Jahre Dezember-Ausstellung» im Kunstmuseum Winterthur statt. Hat diese das regionale Kunstschaffen nicht schon genügend gewürdigt?

LC: Nur bedingt. In der Ausstellung wurden lediglich Kunstschaffende gezeigt, die Mitglieder der Künstlergruppe waren. In «Wohlbehütet – Wertgeschätzt» sind hingegen auch Künstlerinnen und Künstler vertreten, die nicht Mitglieder der Gruppe waren. Dazu gehören beispielsweise Fritz Preisig und Hans Eduard Bühler, die im ersten Teil ausgestellt wurden, sowie Peter Del Fabro und Mathis Piotrowski, deren Werke im zweiten Teil zu sehen sind. Die jetzige Ausstellung  zeigt auf, dass auch Kunstschaffende, die nicht der Künstlergruppe Winterthur angehörten, eine Qualität vorzuweisen haben, die durchaus einer musealen, öffentlichen Betrachtung standhält. Zudem zeigte das Kunstmuseum nur Werke aus eigenen Beständen, aus Beständen von Firmensammlungen und der Stadt Winterthur. In der Villa Flora werden hingegen Werke präsentiert, die aus Winterthurer Privatbesitz stammen. Die Villa Flora ist genau der richtige Ort dafür, denn hier haben Hedy und Arthur Hahnloser ihre hochkarätige Kunstsammlung zusammengetragen. Hedy Hahnloser war übrigens eine wichtige Mentorin für Rudolf Zender.

GB: Inwiefern sind diese Künstlerinnen und Künstler für die heutige Gesellschaft relevant?

LC: Ich betrachte ihre Kunst als Teil der Stadtgeschichte. Sie waren Teil des Kulturlebens der Stadt Winterthur. An ihren Bildern lässt sich der damalige Zeitgeist ablesen.

GB: Dennoch frage ich mich: Ist das Legitimation genug? Wer bestimmt über die Bedeutung dieser Künstlerinnen und Künstler?

LC: Bedeutung kann durch eine Ausstellung geschaffen beziehungsweise gesteigert werden. Je wichtiger der Ausstellungsort, desto grösser der Impact. Die Künstlerin oder der Künstler selbst beeinflussen ihre Bedeutung durch Selbstinszenierung und die Art und Weise, wie sie sich vermarkten und vernetzen.

GB: Sprich die Institution selbst definiert, was Bedeutung hat und was nicht?

LC: Ja, absolut. Jede Ausstellung in einer öffentlichen Institution stellt eine Nobilitierung, eine Aufwertung dar.

GB: Im Fall von «Wohlbehütet – Wertgeschätzt» wiederentdecken Sie selbst die regionale Kunst. Ist diese Entdeckung nicht ein Stück weit von Ihnen selbst inszeniert?

LC: Jede Ausstellung ist eine Inszenierung. Zum kuratorischen Handwerk gehört eine gute Dramaturgie.

GB: Einige Werke stammen ja aus Ihrem Privatbesitz. Wo und weshalb haben Sie diese erworben?

LC: Ich liebe Bilder. Zudem grenzt es schon fast an eine Verrücktheit, wenn man Kunst für ein paar hundert Franken im Brockenhaus und auf Ricardo kaufen kann. Einige habe ich auch aus privater Hand, von Bekannten erworben. Die unglaublich tiefen Preise zeigen, wie der Kunstmarkt funktioniert: ein Spiel von Angebot und Nachfrage.

GB: Was genau meinen Sie damit?

LC: Viele Leute glauben, dass nach dem Ableben einer Künstlerin oder eines Künstlers die Preise steigen. Bei der Regionalkunst trifft das Gegenteil ein. Die Nachfrage ist zu klein, als dass es zur Wertsteigerung käme. Die einzigen Winterthurer Künstler, die noch an Auktionen gehandelt werden, sind Rudolf Zender und Hans Schoellhorn – aber auch nur dann, wenn es sich um besonders gute Werke ab einem Schätzpreis von 2'000 Franken handelt. Deshalb werden Werke der meisten verstorbenen Winterthurer Künstlerinnen und Künstler – wenn überhaupt – auf Ricardo gehandelt, in der Regel zwischen 300 bis maximal 3’000 Franken.

GB: Was ist Ihnen beim Kuratieren wichtig?

LC: Persönlich finde ich es wichtig, dass man Kunst kontextualisiert, also den Entstehungshintergrund sowie die Lebensbedingungen der Künstlerin oder des Künstlers bei der Betrachtung und der Beurteilung berücksichtigt.

GB: Kunst wird oft als elitär und wenig zugänglich wahrgenommen. Wird dadurch der öffentliche Bildungsauftrag von Institutionen nicht verfehlt?

LC: Kunst per se ist ein eher elitäres System, es sollte aber besser vermittelt werden, um Zugänge zu erschliessen. Als Kuratorin oder als Kurator muss man das Publikum lieben und ernst nehmen, um einen Sachverhalt näher bringen zu können. Ich überlasse es gerne den Betrachterinnen und Betrachtern, darüber zu entscheiden, was ihnen zusagt und auf welcher Ebene. Die einen fühlen sich von Kunst eher emotional angesprochen, andere begegnen Kunst auf intellektueller Ebene. Ich will nicht autoritär sein und Bewertungen abliefern oder gar einzelne Œuvre gegeneinander ausspielen, sondern in erster Linie vermitteln.

GB: Was ist das Ziel der Ausstellung?

LC: Ich möchte den verstorbenen Kunstschaffenden eine Plattform geben. Zudem soll die Ausstellung den Besucherinnen und Besuchern Freude bereiten. Ich möchte insbesondere diejenigen ansprechen, die sich mit Winterthur verbunden fühlen.

 

 

Lucia Angela Cavegn hat Kunstgeschichte des Mittelalters und der Neuzeit an der Universität Zürich studiert. Sie arbeitet als freischaffende Kunstkritikerin, Kunstvermittlerin, Kuratorin, Moderatorin und Autorin. Seit Juli 2014 ist sie Mitglied der Kunstkommission der Stadt Winterthur.

 

«Wohlbehütet – Wertgeschätzt»
2. Teil: 30. Juni bis 1. Oktober
Freitag bis Sonntag, 14 bis 17 Uhr
Eintritt: CHF 8/5
Villa Flora
Tösstalstrasse 44
www.villaflora.ch

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