Passive Künstler? Von wegen!

Passive Künstler? Von wegen!

Lange fand Politik in der Schweizer Musik- und Kunstszene hauptsächlich im Hinterstübchen statt. Tempi passati. Die Durchsetzungsinitiative bedeutet das definitive Comeback der Kunst in der Politik.

Es ist Montagmittag und auf dem Helvetiaplatz in Zürich stehen Schafe. Hingekarrt von einer handvoll Freunden: junge Theaterleute, Dramaturginnen, Performance-Künstler, Musikerinnen, Grafikern. Hingekarrt, um gegen die Durchsetzungsinitiative zu mobilisieren. Und vorne, da steht Greis und rappt in sein Mikrofon: «I bin es Chind vo dem Land, bin es Lokalprodukt, i weiss wohere i ghör, i weiss woher i chum, bin nid vom erschte August, wennscho simmer Chind vo 1848.» Und wenig später stimmt in den Chorus ein: «1848! 1848!»

Greis, Knackeboul und Skor

«Teil vomne Ganze» lautet der Titel des Lieds des Polit-Tenors unter den Schweizer Rappern. Es könnte die neue Polit-Hymne in Spe werden. Und vor kurzem hat Greis zusammen mit den Troubadouren «Knuts Koffer» ein Video zum Song «Drum sägi Nei» veröffentlicht, in dem sie gegen die Durchsetzungsinitiative ansingen.

 

Auch Knackeboul steht auf dem Helvetiaplatz und betrachtet die Schafe. Knack, der selten um Worte verlegen ist, der immer lauter und politischer in seinen Texten wird und am Freitag gar in der Polit-Sendung «Arena» auftrat, um sich mit Adrian Amstutz zu batteln. Und ein spontaner Move, aber dennoch kein Zufall ist, dass später an diesem Montagmittag auch noch Skor, das Kind der Langstrasse, zum Mikrofon schreitet und den Text seines Songs «I de Schwiiz» rezitiert, welches ihm vor zweieinhalb Jahren zum Durchbruch verhalf: «Äs isch khais Gheimnis dass d'Schönheit bequem macht; aber d'Chöpf au mol läär macht; dänk no a'd Brüeder will früener oder schpöter wird's gföörlich do drin; und mini Schwiiz brucht Dini Schtimm; villicht nümmä a där Urne eher uf där Schtross.»

 

Neben Rap von Greis und Skor sowie Gitarrensongs von Frank Powers hörten die Schafe an diesem Montagmittag auch Vorträge von Dramaturgen, Regisseurinnen, Schauspielern, Journalistinnen.

  

Jürg Halter liegt falsch

Nur zwei Tag zuvor griff der Berner Musiker und Dichter Jürg Halter eine Gruppe Künstler frontal an: «Ihr seid feige» schrieb er auf Facebook und warf damit  einzelnen Kulturschaffenden vor, nicht genügend gegen die Durchsetzungsinitiative anzukämpfen. Die Kritik ist kaum verständlich: Noch selten zeigten Künstlerinnen und Künstler in einem Abstimmungskampf ein solches Engagement, noch selten waren die Aussagen direkter, die Statements öffentlicher: Die Sängerin Sophie Hunger nutzte die Danksagung bei den Swiss Music Awards zu einem Aufruf gegen die Durchsetzungsinitiative; Dodo, der zweite Abräumer an diesem Abend, postete gestern «Es reicht!»; und zu den Erstunterzeichnenden des «Dringenden Aufrufs», welcher mittlerweile über eine Million Schweizer Franken reinholte gehören Persönlichkeiten wie Rapper Stress, Schriftsteller Peter Bichsel, Clown Dimitri und Architekt Mario Botta.

Kunst bringt Kreativität

Mit dem Geld des Aufrufs wurden unter anderem in der ganzen Schweiz schwarz-weisse «Nein»-Plakate aufgehängt. Aus Kampagnen-Sicht nicht gerade Wahnsinns-Werke, aber in ihrer Anzahl nicht zu übersehen. Auch nicht zu übersehen sind nach den beiden letzten Wochenenden all die «Nein-Stempel» welche auf den Armen des Partyvolks prangern: Vier Zürcher Freunde – ein Filmemacher, eine Grafikerin, eine Industriedesignerin und ein Werbefachmann – kreierten diese Stempel spontan. Mittlerweile sind sie in unzähligen Klubs im Einsatz – auch im Salzhaus Winterthur.

Die Zeitung «WOZ» wiederum hat eine Plakatserie mit Statements von fünf prominenten Schweizer Schriftstellern und Schriftstellerinnen gestalten lassen. Dies hangen mittlerweile in unzähligen Wohnungen, Bars und Büros. Mit dabei mit einem Statement ist auch Melinda Nadj Abonji, die im bei den Wahlen im Oktober in Zürich die neu gegründete Nationalratsliste «Kunst + Politik» anführte, auf welcher 35 Kulturschaffende kandidierten. Die Liste scheiterte zwar grandios, zeigt aber mit ebenso grosser Deutlichkeit den Umschwung der Kulturszene hin zu einem grösseren politischen Engagement.


Seit den 80ern nicht mehr so aktiv

Neu sind sie nicht, die politischen Songs. Doch in ihrer Menge waren sie wohl das letztmals in den 80ern und frühen 90ern vorhanden. Und so überrascht nicht, dass gerade der Song «Tubel Trophy» von Baby Jail letzten Oktober ein Comeback erlebte und auf Platz 6 der Schweizer Hitparade landete. 1991 schrieb Sänger Boni Koller «Tubel Trophy» anlässlich der 700-Jahre-Schweiz-Feier, als Neonazis aufs Rütli marschierten.

Auch wurde politische Kunst  weder mit der Durchsetzungsinitiative neu erfunden noch war es je weg – man denke beispielweise an die unzähligen Projekte von Regisseur Milo Rau. Schriftsteller Lukas Bärfuss riess im Herbst mit einem Artikel ebenfalls eine landesweite Diskussion vom Zaun. Und Rapper Greis ist schon seit Jahren politisch aktiv. Der Unterschied: Es sind nicht mehr nur einzelne. Mehr noch: Das Bedürfnis, sich zu dieser Initiative zu äussern, überwiegt. Und vor allem: Fanden politische Statements eine Zeit lang nur in einzelnen Künstler-Gruppen, an alternativen Kellerkonzerten und in intellektuellen Kleintheater-Produktionen statt, so wurde im jetzigen Abstimmungskampf die Kunst- und Musikszene in ihrer ganzen Bandbreite davon erfasst.


In der Öffentlichkeit angekommen

«Die Kunstszene zeigt viel mehr politisches Engagement als früher», sagt auch der Winterthurer Theatermachern Tobias Bienz, der die Schafaktion mitorganisiert hat. Nach der Ausschaffungs-Initiative stand er mit seiner damaligen Freundin noch alleine nackt auf dem Bundesplatz, um mit einer Performance ein Statement abzugeben. «Doch da war es ja eigentlich schon zu spät», sagt Bienz. Heute aber sei in der Kunstszene das Bedürfnis gegen diese Initiative anzukämpfen stark spürbar. Auch Mitorganisatorin Marta Piras, die an der ZHdK Theater und Dramaturgie studiert, beobachtet ähnliches. Zwar sei Politik in der Kunst oft ein Thema, doch würde dies nun viel stärker nach Aussen getragen, nicht mehr im «eingeschlossenen Raum» praktiziert: «Statt im Theater mit vorwiegend intellektuellem Publikum oder in Ateliers, findet das politische Statement wieder vermehrt auf der Strasse und in der Öffentlichkeit statt.»

 *Transparenz: Silvan Gisler (Stv. Chefredaktor Coucou) hat die im Text erwähnte Operation Libero mitgegründet und die Kampagne #EheFürAlle mitgeleitet. 

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