Über das Verschwinden der Buchhandlungen

Immer mehr Buchhandlungen schliessen. Das jüngste Beispiel in Winterthur: Orell Füssli in der Marktgasse. Hat der Buchhandel eine Zukunft? Und wie könnte diese aussehen?

Noch nie wurde so viel gelesen und geschrieben. Kaum eine Pendlerin, die nicht die Zeit im Zug oder Bus dankbar nutzt, um Nachrichten zu beantworten. Kaum ein Pendler, der nicht auf dem Smartphone die Zeitungs-App aufruft. Die Leserschaft der gedruckten und bezahlten Presseerzeugnisse schwindet indes, Verlage und Druckereien schliessen – und mit ihnen, in ihrem Windschatten und weniger pompös: die Buchhandlungen. So auch in Winterthur. Die Buchhandlung im Schwert am Obertor, die traditionsreiche Buchhandlung Vogel, die evangelische Buchhandlung im Rathausdurchgang, die Buchhandlung Hoster verschwanden bereits aus dem Stadtbild. Und nun aktuell und medienwirksam: Orell Füssli in der Marktgasse. Der Nachfolger soll, wen wunderts, ein Kleidergeschäft sein.

Gerade in diesem Fall lässt sich ein Muster erkennen, das wohl zeitgemäss und exemplarisch ist für den Buchhandel. Orell Füssli drängte vor rund 18 Jahren nach Winterthur in die Marktgasse. Beim Umbau 2011 wurde die Verkaufsfläche auf 1600 Quadratmeter erweitert; das «Shop-in-Shop-Konzept» mit STA Travel und Bagels war grossstädtisch angelegt und kam bei der hiesigen Kundschaft so an: Es blieb anonym und konsumorientiert, der Trend hin zum Wohlfühlbereich und Treffpunkt, zur Aufenthaltszone und zum «Third Room» liess sich nur ansatzweise erkennen. In den Führungsetagen des Konzernes entschloss man sich derweil zu einer Fusion mit Thalia. So wurden 2013 die Buchhandlung Vogel Thalia (ja, die kleine Schwester Thalia übernahm vor einigen Jahren die Winterthurer Institution Buchhandlung Vogel) und die Buchhandlung Orell Füssli an der Marktgasse 3 zu Partnerinnen. Zu den 1600 Quadratmetern kamen weitere 460, nur einige Schritte entfernt, hinzu. Nicht zu vergessen: Im Einkaufszentrum Rosenberg findet sich ein weiterer Ableger von Orell Füssli Thalia (OFT) mit 300 Quadratmetern. Dass das nicht lange gutgehen kann, war abzusehen. Zugleich gewann mit der aufgehobenen Buchpreisbindung der Online-Versand von Medien kräftig an Fahrt. So auch OFT mit seiner Plattform books.ch, die heute neben exlibris.ch zu den grössten Medienversandhäusern der Schweiz zählt. Was eine virtuelle Filiale mit der physischen Niederlassung machen kann, erfuhr ungleich früher die Musicbox Winterthur: Der physische Treffpunkt der Musikliebhaberinnen und -liebhaber wurde zum heute «umfassendsten und aktuellsten Multimedia-Shop der Schweiz»: cede.ch.

Alles, mehr und vor allem gratis
Exemplarisch sind die Verschiebung vom lokalen, stationären Buchhandel in das Internet und die Schliessung von Filialen (oder wie im jüngsten Winterthurer Fall eine Konzentration zulasten von über 30 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern). Hinzukommt der unablässige und gesteigerte Konsum der Leserschaft mit der denkbar primitivsten Anspruchshaltung des «homo oeconomicus»: alles, mehr und vor allem gratis. Qualität ist – offen zugegeben – zweitrangig.

Die übriggebliebenen Buchhandlungen in Winterthurer setzen auf ihre Stärken: Bei der Genossenschaftsbuchhandlung Buch am Platz empfangen Tobi Tanner und Dorothee von Walzel einen jeden Gast zum Schwatz und Kauf. Daniela Binder und ihre Belegschaft der Obergass Buchhandlung gewannen den KMU Max, den Unternehmerpreis des Winterthurer KMU-Verbandes – dies dank ihrer lokalen Vernetzung und Serviceorientierung. Eine Weltbildfiliale bedient in den Lokalitäten der ehemaligen Buchhandlung Hoster ihre Kundschaft mit gewohntem, national gefragten Konzept. Das Buchparadies an der Tösstalstrasse entpuppt sich für Schnäppchenjäger als Eden. Werden diese da nicht fündig, wenden sie sich an Ueli Harsch, den Antiquar im Rathausdurchgang. Der Bücherkoffer in der Metzggasse hat sich auf Reiseliteratur spezialisiert, die Buchhandlung Brunnen Bibel Panorama in der Steinberggasse bedient ihre einschlägige Kundschaft engagiert. Auf Nischenbesetzung setzen der Notenpunkt an der Kirchgasse, der Chinderlade neben dem Kafisatz und der Zappadoing von René Brügger. Und nicht zu vergessen: Der spirituelle Shanti an der Oberen Kirchgasse verkauft nicht nur Rosenquarze, sondern auch esoterische Literatur. Online kämpfen die in Winterthur angesiedelten Versandbuchhandlungen bol.ch und buch.ch um ihr Überleben. Das böse A-Wort soll hier nicht erwähnt werden, doch mit der Aufhebung des Euro-Mindestkurses bedroht der amerikanische Online-Versandhändler nun noch unmittelbarer als Monopolist.

Was bleibt zu tun?
Die nationale Kulturbotschaft 2016-2020 will eine explizite Buchpolitik des Bundes legitimieren. Eine der vorgeschlagenen Massnahmen ist neuartig: die explizite Verlagsförderung. Statt wie bislang Buchprojekte zu unterstützen, sollen systematisch auch Verlage gefördert werden. Eine verschwindend kleine Summe von zwei Millionen Franken soll, voraussichtlich über eine Ausschreibung mit Wettbewerb, an die Verlage ausgeschüttet werden. Daniel Landolf, Geschäftsführer des Schweizer Buchhändler- und Verlegerverbandes SBVV, begrüsst die deutliche Bekennung zur hiesigen Verlagslandschaft. Er betont indes: «Die Ausschüttung nach einem Giesskannenprinzip gleicht einem Tropfen auf den heissen Stein. Wenn jeder Verlag zweitausend Franken jährlich erhält, nützt das niemandem etwas.» Klar ist also, dass diese Massnahme Innovationskraft und Tatendrang der Verlage unterstützt. Der Buchhandel als Bindeglied der Verlage zur Leserschaft profitiert von einer regionalen, lokalen Buchproduktion. Aber: Bedenkt man, dass die Kulturförderung auf Bundesebene lediglich zirka 15 Prozent der gesamten Kulturaufwendungen der öffentlichen Hand ausmacht, verliert man seinen Optimismus. Immerhin ist die Verlagsförderung als klares Bekenntnis ein wichtiges Zeichen. Wenn der Staat nicht eingreift und den Buchhandel als Kulturfördermassnahme schützen will oder kann, ist es an der Leserschaft, diese Aufgabe zu übernehmen. Freilich ist der Appell an die Konsumentinnen und Konsumenten zum Scheitern verurteilt. Es ist zu viel verlangt, dass ein lesehungriger Student oder eine Studentin vierzig Franken für einen guten Roman ausgeben soll, wenn er oder sie sich denselben für die Hälfte des Kaufpreises bequem und portofrei in den Briefkasten liefern lassen kann. Und doch hat man jedes Mal ein schlechtes Gewissen.
Ein Lösungsvorschlag: die «Sharing Ökonomie» beziehungsweise das Teilen, das eine neuartige Konsumhaltung der Gesellschaft verspricht. Hierbei wird geteilt und geliehen statt selber angeschafft. Alter Wein in neuen Schläuchen: Die Bibliotheken machen genau dies schon seit Jahrhunderten. Sie unterstützen heute den lokalen Buchhandel, wobei die jüngsten städtischen Sparmassnahmen diese Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit in Winterthur in Frage zu stellen drohen. Bis heute aber jagen sie ihr Einkaufsetat nicht in virtuellen Sphären, sondern sichern in Winterthur den Fortbestand der kleineren Buchhandlungen. Bibliotheken im ganzen Land betreiben Literaturvermittlung mit mehrsprachigen Lesungen und allerhand niederschwelligen Veranstaltungen rund um ihre Medien und fördern die Medienkompetenz ihres Publikums mit vielen kostenlosen Angeboten.

Publishers in Resistance
Auch die Buchproduktion überdenkt sich gezwungenermassen. Die Produktion als auch der Buchhandel sollen mutig werden und sich selber neu erfinden statt zu jammern, heisst es auch innerhalb der Branche. Der Buchhandel soll Vorwärtsstrategien entwickeln, in neue Formate investieren. Eine Gelegenheit packte die Branche jüngst am Schopf: Im Rahmen der Zwischennutzung des Literaturmuseums Strauhof vom Februar bis Mai 2015 bespielen rund 30 Deutschschweizer Verlage unter dem Titel «Publishers in Residence» das Haus in der Zürcher Altstadt. Neben dem Parcours «Vom Manuskript zum Buch» erlauben über 50 Veranstaltungen einen umfassenden Blick hinter die Kulissen des Büchermachens, und in der Reihe «Heute im Büro» können die Verlegerinnen und Verleger bei der täglichen Arbeit begleitet werden. Es finden Debatten um das Buchwesen statt – unter dem Titel «Publishers in Resistance» – und Buchvernissagen, Lesungen, Manuskriptsprechstunden... Diese Verlagsausstellung der Buchhändler und Verlegerinnen ist einmalig und eine neuartige, progressive Art, sich zu präsentieren.

Am Ende der langen Verwertungskette eines Buches stehen die Buchhändlerinnen und Buchhändler, die täglich die Türen öffnen und uns den Weg durch den tintenschwarzen Bücherdschungel weisen. Sie sollen unterstützt werden, und zwar nicht nur von Bund, Kantonen und Stadtverwaltungen, sondern auch von denen, die als erste und letzte Instanz über den Fortbestand des Buches entscheiden: die Leserinnen und Leser.

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