Tibet im Tösstal

Tibet im Tösstal

Interview mit Karma Lobsang

1. Buddhismus in Rikon

 

Katharina Flieger: Wir treffen uns im Tibet-Institut im Tösstal, das etwas versteckt auf einem bewaldeten Hügel bei Rikon gebaut wurde. Vergangenes Jahr feierte das Institut, dessen Stiftungsratspräsidentin Sie sind, sein fünfzigjähriges Bestehen. Was hatte dieser Ort für eine Bedeutung, als er 1968 entstand?

Karma Lobsang: Das Institut wurde zur geistigen Heimat der in der Schweiz lebenden Exiltibeter*innen. Wir befinden uns hier im ersten buddhistischen Kloster, das ausserhalb Asiens gebaut wurde. So durfte man es aber damals nicht nennen, da dies gegen die Schweizer Bundesverfassung verstossen hätte.

 

KF: Wieso wurde diese Institution gerade hier in Rikon gebaut?

KL: 1968 entstand hier im Tösstal die erste tibetische Exilgemeinschaft. Der Bundesrat beschloss damals, tibetische Flüchtlinge aufzunehmen. Die Neuankömmlinge stiessen auf wohlwollendes Interesse der Schweizer Bevölkerung, die Metallwarenfabrik Kuhn in Rikon bot vielen von ihnen Arbeit.

Nun hatten sie zwar bezahlte Jobs, doch blieb vieles fremd: Als erste asiatische Flüchtlinge in der Schweiz bildeten sie eine sichtbare Minderheit, die durch Aussehen, Kleidung und Sprache auffiel. Herausfordernde Aspekte der Integration wurden – teilweise mit Alkohol – verdrängt. Dies fiel der Familie Kuhn auf, und so kam sie auf die Idee, ein Kloster zu gründen. Das geistige Oberhaupt der Tibeter, der Dalai Lama, unterstützte das Vorhaben und schickte vier Mönche und einen Abt hierher.

 

KF: Wie gestaltet sich der Alltag der Mönche heute?

KL: Heute leben hier acht Mönche. Es ist ein Rime-Kloster, also ein Kloster, in dem alle vier buddhistischen Schulen vereint sind. Alle wichtigen Feiertage werden hier gefeiert, Todesgebete finden statt, die Mönche besuchen Trauerfamilien und begleiten Menschen in Lebenskrisen. Des Weiteren gibt es Workshops, Buddhismus-Kurse und eine Ausbildung zu Meditationsleiter*innen.

 

KF: Das Kloster verfügt auch über eine grosse Bibliothek. Welche Bedeutung haben die Bücher?

KL: Im Tösstal befindet sich mit 12‘000 Titeln die zweitgrösste tibetische Bibliothek weltweit. Die grösste ist in Dharamsala, wo auch die tibetische Exilregierung stationiert ist. Sie hat eine grosse Bedeutung für die Mönche wie auch für Aussenstehende, Wissenschaftler*innen und interessierte Privatpersonen. Wir sind an den IDS-Verbund der Universität Zürich angeschlossen, die Schriften sind öffentlich zugänglich und werden oft verschickt, da der Standort etwas abgelegen ist.

 2. Der Besuch des Dalai Lama

 

KF: Zum Jubiläum im Herbst des vergangenen Jahres besuchte der Dalai Lama Winterthur und das Institut. Was bedeutete seine Anwesenheit für Sie und die Mönche?

KL: Inspiration. Es war eine schöne Ehre mit ihm als Schirmherr die Freude zu teilen, dass es das Kloster immer noch gibt. 2015 sagte er einen Besuch zu, seither waren wir am vorbereiten. Der Dalai Lama war schon viele Male in der Schweiz und hat, wie er selber sagt, einen speziellen Bezug zum Land. Dies, weil der Schweizer Staat schon früh Flüchtlinge aufgenommen hat, darunter eine Gruppe tibetischer Kinder im Kinderdorf Pestalozzi. Dass er mit seinen 83 Jahren nochmals eine Reise hierher unternehmen konnte, war ein grosses Glück.

 

KF: Beim Besuch in der Eulachhalle sah ich zahlreiche Menschen, die ihrer tiefen Verehrung für den Dalai Lama Ausdruck verliehen. Es war ein berührender Moment, zugleich rief er mir kritische Stimmen um diesen Personenkult in Erinnerung.

KL: Es gibt kritische Stimmen, doch werde ich damit nicht konfrontiert. Wir bemühten uns im Vorfeld, möglichst unterschiedliche Nichtregierungsorganisationen zu involvieren und haben die Jugend, die Frauen und die Tibetergemeinschaft in die Vorbereitungen des Festaktes miteinbezogen. Ich habe deshalb bloss Leute erlebt, die sich bedankten und die glücklich über die Anwesenheit des Dalai Lama waren.

 

KF: Was bedeutete Ihnen dieser Besuch persönlich?

KL: Ich bewundere, wie der Dalai Lama umsetzt und lebt, wovon er spricht. Sein Besuch motivierte mich, mich weiter für die Umsetzung der Stiftungsziele einzusetzen. Dazu gehört auch die Stellung der Frau im Buddhismus, die mir sehr wichtig ist. Ich bin vom westlichen Feminismus geprägt und habe in jungen Jahren eine tibetische Frauenorganisation mitgegründet. 2016 hat der Dalai Lama erstmals tibetischen Nonnen einen Doktortitel in buddhistischer Philosophie verliehen – ein wichtiger Schritt.

 3. Zwischen Traditionen und heutiger Lebenswelt

 

KF: Wie setzen Sie die Ziele der Stiftung um?

KL: In interaktiven Buddhismus-Workshops versuchen wir einen Bezug zu Ritualen und Traditionen aufzubauen und zugleich aktuelle ethische Fragen zu vermitteln. Es ist nicht immer einfach, methodisch zeitgemäss zu arbeiten und uralte Inhalte zu vermitteln. Ich lege Wert darauf, mit den Mönchen Brücken zu bauen zwischen traditionellem Lehren und Lernen und aktuellen Lern- und Lehrmethoden, damit die Buddhismus-Vermittlung wirklich gelingt.

 

KF: Welche Rolle spielen dabei digitale Strategien?

KL: Bisher keine grosse. Wir werden zwei Apps mit Wörterbüchern Deutsch-Tibetisch und Tibetisch-Deutsch herausgeben, ansonsten arbeiten wir meist analog. Wir haben noch keine Angebote im Netz. Wir möchten, dass die jungen Menschen hierherkommen und diesen Ort erleben: Durch die gemeinsame physische Präsenz in dieser Umgebung entstehen wichtige ernsthafte wie unterhaltsame Lernmomente. Das schafft eine stärkere Verbindung, als dies mit digitalen Angeboten möglich wäre. Darauf kann man dann in kleinen Schritten aufbauen.

 

KF: Sie leben in Biel, arbeiten in Bern – was führt Sie regelmässig hierher? 

KL: Ich finde hier einen seltenen, lebendigen Ort des Lehrens und Lernens vor. Das Tibet-Institut ist kein Kloster, wo ein paar Mönche sitzen und den ganzen Tag vor sich hin rezitieren. Wir leben Offenheit Neuem gegenüber, um das wertvolle alte Wissen der Zeit anpassen zu können. Zentral ist die Vermittlung zwischen Generationen, zwischen älteren Tibeter*innen und jüngeren, die hier sozialisiert sind und anders denken.

Unser Interesse ist es nicht, dass sich die Leute nur assimilieren, sondern einen Teil des tibetisch-buddhistischen Wissens in ihr Leben, in ihre Biografie integrieren. Ich bin selber hier geboren und weiss, wie viel es für eine gelungene Kommunikation braucht. Man muss häufig genau erklären, was man meint, damit man richtig verstanden wird – sowohl innerhalb der tibetischen Gemeinschaft wie auch gegen aussen!

 

KF: Die Rede ist oft von «der Tibetergemeinschaft» – kann man das so pauschal sagen, als ob das eine homogene Gruppe wäre?

KL: Was ich als «Tibetergemeinschaft» bezeichne, ist keine homogene Gruppe – heute nicht und das war sie auch in den 1960er-Jahren nicht: Die Geflüchteten kamen über Indien in die Schweiz und stammten aus allen gesellschaftlichen Schichten. In Tibet herrschte damals ein dem Mittelalter entsprechendes feudales Gesellschaftssystem mit Adel, Klerus und 80 Prozent Bauernschaft oder nomadisch lebenden Menschen. Bereits die erste Gruppe, die in die Schweiz kam, war also heterogen durchmischt. Doch die Heterogenität stieg weiter in dem Sinne, dass die Gruppe der rund 1’000 Tibeter*innen, die damals 1963 in der Schweiz aufgenommen wurden, zu einer Gemeinschaft von rund 7‘500 Tibeter*innen angewachsen ist, samt Nachkommen und Neuankömmlingen von späteren Flüchtlingswellen ab den 1990er-Jahren. Da gibt es die unterschiedlichsten Lebenserfahrungen und Bedürfnisse. Das Tibet-Institut bietet die Möglichkeit, dass all diese Individuen einen gemeinsamen Ort haben.

 

KF: Wem steht dieser Ort ausserdem offen? Die heute weitverbreitete Suche nach Spiritualität im Westen führt ja auch zu einem Boom von Angeboten, um unserer digital vernetzten Welt zu entkommen. Wer ist willkommen?

KL: Alle. Buddhismus ist, so wie wir ihn verstehen und weitergeben, eine Wissenschaft des Bewusstseins. Man muss kein*e Buddhist*in sein, um an unsere Veranstaltungen zu kommen. Da lernen Sie mit negativen Emotionen umzugehen, zu meditieren und im Geist und Körper zur Ruhe zu kommen. Wir sind ein aufgeschlossenes Haus für alle, die uns mit zurückhaltender und zugleich offener Neugierde besuchen.

 

 

 

Dr. phil. Karma Lobsang studierte Allgemeine Pädagogik, Soziologie und Politologie. Sie arbeitet als Dozentin an der Pädagogischen Hochschule Bern und als freie Mediatorin. Seit 2001 ist sie Mitglied des Stiftungsrates des Tibet-Instituts in Rikon und seit 2016 dessen Präsidentin. Damit ist sie die erste tibetische Person, die den Stiftungsrat in der 50-jährigen Geschichte der Stiftung präsidiert.

 

 

«Der Balken in meinem Auge» ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview wurde am 4. Januar 2019 von Katharina Flieger im Tibet-Institut in Rikon geführt.

 

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