Fröhliche Wissenschaft

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Ein Interview mit dem Musikphilosophen Bruno Dal Bon

  1. Operette und Moderne

 

Damian Christinger: Lieber Bruno Dal Bon, ich habe Sie angesprochen, weil ich Ihnen einige Fragen zu einem wunderbar-seltsamen Abend, den ich erlebt habe, stellen möchte. In einem kleinen Saal in einem Schweizer Bergdorf und vor einem Publikum von vielleicht vierzig Menschen haben drei aussergewöhnliche Musikerinnen aus Italien Auszüge aus französischen und italienischen Operetten gesungen, die Sie als Organisator des Abends mit ihnen erarbeitet hatten. Diese Stücke sind aber heute fast völlig unbekannt, niemand im Publikum hatte je von den Komponisten gehört. Ist das nicht Verschwendung von Energie und Talent? 

Bruno Dal Bon: Keineswegs, auch wenn ich Verschwendung oder besser Entäusserung in der Musik nicht für falsch halte. Der Abend, von dem Sie sprechen, war ein Beitrag zum Nietzsche-Workshop, der gerade in Sils Maria stattfindet. So wie Philosoph*innen und Übersetzer*innen ihre Beiträge zum Stand der Forschung und ihrem Schaffen leisten, so wollten wir aus der Sicht der Musik etwas zur Diskussion beitragen. Die Art der Musik, die wir gestern präsentierten, kann man nicht zurückhaltend darbieten, ein gewisser, augenzwinkernder Pathos gehört da einfach dazu. Der Stoff, mit dem wir uns auseinandergesetzt haben, die Operette des späten 19. Jahrhunderts, lebt von Verschwendung im positiven Sinne, von ihrer Überfülle an Farben, Ideen und Rhythmen.

 

DC: Aber wieso gerade Operette? Das ist nicht unbedingt jene Musik, die mir beim Thema Philosophie zuerst in den Sinn kommt.

 BDB: Weil dies jene Musik ist, die Nietzsche in seinen letzten «wachen Momenten» in Turin hörte und die er, so wissen wir aus seinen Briefen, zuletzt höher schätzte als beispielsweise die Oper. Die meisten Menschen assoziieren mit Nietzsche ja zuallererst Wagner, was für die frühe Schaffensphase ja durchaus zutrifft, auch wenn es dann später zum berühmten Bruch kommt. In seinem späteren Leben empfand er aber gerade die Operette als wichtig, was vielleicht mit seinem veränderten Verständnis des Dionysischen zusammenhängt, die Spekulationen hierüber überlasse ich aber gerne den Spezialist*innen. Fest steht, dass ihm gerade das Leichte, die Hinwendung zum Melodiösen, Rhythmischen in diesem Zusammenhang wichtig war. Alles Aspekte, die man gemeinhin nicht mit diesem Dichter-Philosophen in Zusammenhang bringen würde, wobei häufig vergessen wird, dass Nietzsche ja selbst auch komponiert hat. Bis heute hat die Forschung die eben erwähnten Briefe aber kaum ausgewertet oder in einen Zusammenhang mit dem ohnehin schon komplexen Gesamtwerk gebracht, dabei sind sie keinesfalls unbekannt oder neu.

 

DC: Mich hat dieser Zusammenhang jedenfalls sehr erstaunt. Vielleicht habe ich aber auch Vorurteile gegenüber dem Genre. Welche Bedeutung hatte die Operette denn generell in dieser Zeit?

 BDB: Das wachsende Bürgertum sucht eine angemessene Form der Unterhaltung. Eine Balance zwischen dem, was bis anhin als Kunst gegolten hat und einer Reaktion auf die Zumutungen der Moderne. Denker wie Darwin, Marx, Freud oder eben auch Nietzsche entzauberten vieles und versuchten Antworten auf neue Fragen zu geben. Die Operette bot dagegen einerseits Spektakel in einer kultivierten Form, andererseits war sie die Spielwiese für neue Formen und Experimente; viele ausgezeichnete Komponisten fanden Freiheiten und Möglichkeiten, die ihnen diese vermeintlich leichte und populäre Musik bot. Der Aspekt der Exotik war auch wichtig. Spanische Einflüsse vermischten sich mit italienischen, französischen und deutschen; die Operette war auch kosmopolitisch. Die neuen Welten, die sich zum Beispiel in den Weltausstellungen, den Kolonialwarenhandlungen und den entstehenden Kaufhäusern darboten, wurden in die Musik integriert. Die Geräusche der Industrialisierung widerspiegeln sich in den Tönen, auch die damit einhergehende Sehnsucht nach Idylle und dem vermeintlich Bekannten. Die Operetten zeigen diese Zerrissenheit in ihrer Balance zwischen banaler Unterhaltung und innovativen Formaten, so wie wir sie hier gezeigt haben.


 2. Musik und Philosophie als Praxis

 

DC: Ihrer Biographie entnehme ich, dass Sie eine internationale Dirigentenkarriere aufgegeben haben, um an der Hochschule in Como zu unterrichten. Wollten sie weg vom Kosmopolitischen und sich aus dem Betrieb und der Praxis zurückziehen?

 BDB: Es ist eher die Hinwendung zu einer anderen Praxis. Mich haben die Zusammenhänge zwischen Musik und Philosophie immer interessiert. Durch meine Arbeit an der Hochschule konnte ich «A Duovoci» gründen und vorwärtstreiben: eine internationale Plattform, die dialogisches Arbeiten zwischen den Disziplinen fordert und auch versucht. «A Duovoci» veranstalten Konzerte und Vorlesungen, Symposien und Diskussionsforen. Eine Arbeit, die mich ausfüllt und mir Spass macht. Gleichzeitig eröffnet sich eine Praxis zwischen den Disziplinen, die, so hoffen wir zumindest, beiden Seiten guttut.

 

DC: Bei der Philosophie steht das Erkenntnisinteresse im Mittelpunkt, bei der Musik geht es auch um anderes, zum Beispiel die flüchtige, kaum greifbare Erfahrung. Wie bringen Sie das zusammen?

 BDB: Die ästhetische Erfahrung, die Aisthesis, ist bei beiden Praxen oder Disziplinen wichtig. Seit dem 18. Jahrhundert wird mal die sinnliche Wahrnehmung als Möglichkeit der Erkenntnis betont, also die Ästhetik als philosophische Schule in den Mittelpunkt gestellt, und mal im Sinne einer möglichen oder unmöglichen Theorie des sinnlichen Wahrnehmens, der körperlichen Aufmerksamkeit und des zeitlichen Gewahrseins verstanden. Wir versuchen, diese ideengeschichtlichen Gegensätze zusammenzubringen. Ästhetik kann ja auch als Performanz verstanden werden. Seit Parmenides verstehen wir Aisthesis auch als Kontrast zur rein kognitiven und unkörperlichen Erfahrung, die eine höhere Erkenntnis ermöglichen soll. Die Musik ist da auch eine Möglichkeit des praktischen Reflektierens und Nachdenkens. Vielleicht hängen auch viele blinde Flecken in der Geisteswissenschaft mit der strikten Trennung zwischen Wissen und Erfahrung zusammen.

 

DC: Wie sähe denn ein Gegenmodell aus? Wie könnte man Geisteswissenschaft anders betreiben?

 BDB: Das ist das, was mich an Nietzsche fasziniert: dass er nicht nur argumentiert und nachgedacht und systematisch gearbeitet hat, sondern dass er auch komponiert hat und der Lyrik, also der Dichtung als Kunst, eine eigenständige Rolle innerhalb seines Werkes einräumt. Das heisst nicht, dass systematische Philosophie in irgendeiner Form falsch wäre, ich mag einfach kein entweder oder.

 3. Sphärenmusik

 

DC: Wenn wir and die Geburten der europäischen Philosophie in der Antike denken, spielt ja zum Beispiel die Sphärenmusik eine interessante Rolle. Wie stehen sie zu diesen, aus heutiger Perspektive gesehen, vielleicht etwas naiven Ideen?

 BDB (lacht): Naiv? Obwohl mich die Ideen des Pythagoras von Samos natürlich faszinieren, die Vorstellung, dass die Bewegungen der Himmelskörper und der sie tragenden Sphären Töne hervorbringen, die normalerweise nicht hörbar sind – eine Harmonie, die sich uns zuerst entzieht –, ist natürlich romantisch. Die Theorie der Pythagoräer, dass der Kosmos eine durch mathematische Proportionen geordnete Grösse sei und dass sich in der Musik dieselben mathematischen Gesetzmässigkeiten zeigten wie in der Astronomie, hat sich doch sehr lange halten können. Aber Spass beiseite! Die Interferenzen zwischen Musik und Philosophie sowie Kultus und Musik sind historisch omnipräsent. Wenn wir Nietzsche als den grossen Infragesteller einer göttlichen Ordnung verstehen, so hat ihn die Musik doch immer wieder fasziniert und nicht losgelassen. Das ist etwas, was mich bis heute immer wieder aufs Neue beschäftigt, das Uneindeutige, der Raum an Möglichkeiten, der sich durch die Praxis des Musizierens erschliesst.

 

DC: Eine der wenigen wirklich transkulturellen Charakteristiken der Menschheit?

 BDB: Und auch eine Chance. Die westlich geprägte Philosophie stösst heute immer wieder an Grenzen, insbesondere in der Verhandlung transkultureller Werte und Ideen, die in einer globalisierten Welt zentral sind. Die Musik kann hier als Praxis des performativen Nachdenkens helfen.

 

DC: Aber vielleicht weniger in der Form von Operetten?

 BDB: Sie sollten auch dem Leichten eine Chance geben, Erkenntnis ist in der Musik überall möglich. Vielleicht auch gerade dann, wenn Sie es am wenigsten Erwarten.

  

Bruno Dal Bon ist Musikwissenschafter und Professor am Konservatorium in Como. Er lebt und arbeitet in Como und Mailand.

 

Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Bruno Dal Bon wurde von Damian Christinger am 25. Juli 2018 in Isola geführt.

 

 

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