1. Zeit der Kultur
Ernesto Neto (unvermittelt das Gespräch beginnend): Ich glaube, dass die meisten indigenen Gesellschaften spirituell sind. Ich bin zwar kein Anthropologe. Und dennoch glaube ich, ganz unbescheiden, dass das wahr ist. Sie glauben, dass sie von ihrer direkten Umwelt lernen können, dass die Pflanzen und Tiere Wissen vermitteln. Die Huni Kuin (Anm. der Redaktion: Die Huni Kuin sind eine amerindische Sprachgruppe, die vorwiegend am Jordao-Fluss in Brasilien siedelt) haben zum Beispiel ein Lied, das sie vor wichtigen Zeremonien singen, um die Pflanzen, die Vögel und die Boa anzurufen.
Ruedi Widmer: Boa, die Würgeschlange?
EN: Ja genau, die Boa Constrictor. Sie ist für die Huni Kuin eine spirituelle Führerin, die verschiedene Welten verbindet. Wenn sie dann die heilige Medizin trinken, dann trinken sie auch die Schlange, und die Boa wird in ihnen lebendig. Deswegen ist es wichtig, sie vorher durch Gesang anzurufen. Die Pajés (Anm. der Redaktion: Pajés sind spirituelle Führer, in westlicher Sprache würde man sie am ehesten als Schamanen bezeichnen) wissen ganz genau, was sie tun.
RW: Und wir in den Städten wissen es nicht mehr?
EN: Ich glaube, dass sich in unseren westlichen Gesellschaften viel Unbehagen aufgestaut hat. Wir haben keinen Respekt vor dem Leben. In Brasilien ist das, denke ich, noch viel dramatischer als in der Schweiz. Aber zurück zum Thema: Die Vögel werden angerufen, weil sie den Huni Kuin praktische Ratschläge geben. Nehmen wir an, du möchtest auf die Jagd gehen und ein Vogel ruft «hahada», dann heisst das: «Geh! Du wirst Glück bei der Jagd haben». Falls derselbe Vogel aber «chacha» ruft, dann solltest du zu Hause bleiben, weil du ansonsten vielleicht nicht zurückkommst. Die Huni Kuin kennen fünf grosse Zeitperioden: Die Zeit der grossen Häuser, als sie frei waren. Die Zeit des ersten Kontaktes mit den Westlern, die gleichzeitig auch als die Zeit der Fluchten bekannt ist. Dann die Zeit der Sklaverei, als sie auf den Kautschuk-Plantagen schuften mussten. Anschliessend kommt die des Rechtes, als sie für ihr Land und ihre Kultur zu kämpfen begannen – zum Beispiel vertrieben sie an vielen Orten die christlichen Missionare und verbrannten die Bibeln, weil sie erkannt hatten, dass vieles von dem alten Wissen durch die Missionare zerstört oder unterdrückt worden war. Dies mag extrem klingen, aber erst diese Kämpfe ermöglichten die heutige (fünfte) Zeit, die der Kultur. Diese Epoche ist eine Gegenwart, in der die Rechte, die Kulturen und das Wissen der Indigenen auf Augenhöhe mit dem Westen verhandelbar werden. Es sind die wesentlichen globalen Fragen, wie die nach der Klimaerwärmung, dem Umgang mit den natürlichen Ressourcen oder dem Recht auf Trinkwasser.
2. Bühne der Kunst oder Bühne des Lebens?
RW: Der Anlass, warum wir über diese Dinge sprechen, ist einerseits die monumentale Skulptur «GaiaMotherTree» im Hauptbahnhof Zürich und andererseits die «Assembleia», die in dieser Skulptur stattgefunden hat und an der auch Pajés dabei waren. In dieser «Assembleia» wurde gesprochen, aber auch gesungen und getanzt. In welche Welt gehört die Assembleia? Ist sie auch Kunst?
EN: Für einen Künstler oder eine Künstlerin ist alles Skulptur. Kunst kann überall sein, man muss sie nur sehen wollen. Ich glaube, dass es Zeit wird, die Kunst wieder in den Alltag zurückzubringen, raus aus dem Museum und zurück dorthin, wo das Leben stattfindet.
RW: Vieles von dem, was du sagst, erinnert mich an den Philosophen Jean-Jacques Rousseau. Das Leben in der Stadt ist nicht das natürliche Leben, weil das Leben in der Stadt nicht echt ist. Alles ist Bühne, alles wird ausgestellt, alles ist ein Theater. Man stellt auch Völker aus, das ist Teil der Kolonialgeschichte. Ich möchte nun über diese koloniale Bühne sprechen. Der Hauptbahnhof Zürich ist historisch eine koloniale Drehscheibe, die Schweiz wird reich, weil sie sich mit ihrer Industrie und ihrem Handel Vorteile verschaffen konnte. Hier, ganz nahe an der Bahnhofstrasse, baust du nun deine Bühne auf, hier steht dein Mutter-Erde-Baum. Wessen Idee war es, die Skulptur im Hauptbahnhof aufzustellen und die Assembleia dort abzuhalten?
EN: Das war meine Idee. Ich wollte den amerindischen Delegierten eine Plattform geben. Die Huni Kuin kämpfen ums Überleben. Von allen Seiten werden ihnen Landrechte streitig gemacht. Grosse Pharmafirmen gehen in den Wald und lassen sich jahrtausendaltes Wissen patentieren. Es stimmt schon, die Pajés sind hier weit weg vom Wald, der ihr Kraftzentrum ist. Aber sie haben Wichtiges zu sagen, dafür brauchen sie nicht einen Tempel der Kunstwelt, sondern einen Raum, in dem sehr viele Leute sind.
RW: Wie nehmen sie es selber wahr?
EN: Das ist die zentrale Frage. Ich kann nur sagen, für sie gibt es unsere Trennungen zwischen Kunst und Leben nicht. Für sie ist Wissen und Poesie nicht getrennt. Der Westen ist jene Entität, die separiert und klassifiziert. Wir machen zum Beispiel einen Unterschied zwischen uns und der Natur. Wir objektivieren und analysieren die Natur, die Grundlage für Rationalität und Wissenschaft. Zum Westen, wie er beispielsweise in den USA verkörpert ist, gehört auch die Trennung zwischen den Kulturen, den Rassen. Obwohl dort Weisse, Afroamerikaner und Indigene zusammenleben. Man kann das Purismus oder Puritanismus nennen. Interessanterweise hat ein mit mir befreundeter Anthropologe die Diagnose gestellt, dass die heftigen Reaktionen auf meine Installation an der Biennale in Venedig auch auf den westlichen Puritanismus zurückzuführen seien.
3. Gibt es den neutralen Raum?
RW: Dort hast du 2017 unter dem Titel «Um Sagrado Lugar» aus einem Kunstraum einen schamanistischen Versammlungsraum gemacht, amerindische Eingeladene hielten sich darin in vollem Federschmuck auf. Ein Beitrag, für den du sehr stark kritisiert worden bist.
EN: Genau. Für mich ist das unverständlich. Hätten sich die weissen Männer der westlichen Kunstkritik oder der sogenannten Avantgarde einfach dazugesetzt, dann hätte etwas entstehen können. Die verschiedenen Ideen müssen sich endlich mischen, es muss eine Kreolisierung der Kunstwelt und des Denkens stattfinden. Die Dummheiten unserer Zeit können nur so geheilt werden.
RW: Die Frage, wer agiert und über wen bestimmt wird, ist dadurch nicht beantwortet.
EN: Natürlich ist es auch eine Machtfrage. Ich habe mehr Geld und Einfluss als sie, ich bin einer der bekannteren Künstler aus Brasilien; also ja klar, in diesem Umfeld bin ich in einer mächtigeren Position. Genau dies war ja der Vorwurf, dass ein weisser, mächtiger Brasilianer die Ureinwohner seines Landes in einen ihnen fremden Zusammenhang schleppt, sie ausstellt und instrumentalisiert. Wer so denkt, verkennt aber einige andere grundlegende Zusammenhänge. Wenn ich mit diesen Pajés zusammen bin, dann sind sie die Lehrer und ich ihr Schüler. Ich mag eine Skulptur wie diejenige im Hauptbahnhof Zürich schaffen, und ja, darauf bin ich stolz. Für die Pajés aber ist dies nicht so wichtig. Was sie schätzen und auch wollen, ist ein Ort, an dem sie ihre Ideen präsentieren und diskutieren können. Hat irgendeiner der Kunstkritiker einen der Pajés befragt, ein Interview mit ihm geführt und herauszufinden versucht, was ihnen wichtig ist?
RW: Du hast von Heilung gesprochen und davon, dass die Kunst in den Alltag zurückfinden muss. Gleichzeitig ist dein Werk natürlich auch auf dem Markt der Kunst, und du bist ein Teil der Kunstwelt. Braucht diese Welt der Kunst auch Heilung? Und wenn ja, was wäre dann die Medizin?
EN: Es gibt immer mehr Messen und Biennalen überall auf dem Planeten. Und gleichzeitig können sich sehr viele gute Künstlerinnen und Künstler nicht mehr von dem ernähren, was sie tun, weil es für sie kein ausreichendes Interesse gibt. Alle gehen nur noch an die Events. Das System wächst und wächst, der Raum für die Kunst wird aber kleiner und kleiner. Die Biennalen wurden in den letzten Jahren immer akademischer, die Messen dagegen immer merkantiler. Natürlich wollten die Biennalen ein Gegengewicht zum Kunstmarkt schaffen, beide Seiten haben sich aber von der Gesellschaft entfernt. Kunst wird wieder zu einem Club für Eingeweihte. Mich interessiert dies nicht. Ich möchte alle erreichen. Ich weiss, dass ich dafür von vielen aus der intellektuellen und akademischen Welt kritisiert werde, ich mache aber keine Kunst für den Intellekt, sondern für die Körper. Kunst und Kultur dürfen nicht trennen, sie müssen vereinen. Sie müssen wie die Gesellschaft Teil der Natur werden. Körper sind das Bindeglied.
Ernesto Netos «GaiaMotherTree» war vom 29. Juni bis am 29. Juli im Hauptbahnhof Zürich zu sehen. Die «Assembleia» fand am 30. Juni und am 1. Juli statt. Mitverantwortlich für das Projekt war Damian Christinger, der beim Gespräch ebenfalls dabei war.
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Masters Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Ernesto Neto wurde am 3. Juli von Ruedi Widmer geführt.