1. Polen als Konstrukt
Sandra Biberstein: Rechtspopulistische Parteien gewinnen in Europa zunehmend Einfluss. In Polen erreichte die nationalkonservative Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, die Partei Recht und Gerechtigkeit) bei den Wahlen im Oktober 2015 die Mehrheit im Sejm, dem Parlament. Ist die Zustimmung der Bevölkerung zur Politik der Pis nach 1,5 Jahren noch immer da?
Dorota Sajewska: Die aktuellsten Umfragen zeigen, dass 30 Prozent der Bevölkerung mit der Politik der PiS zufrieden sind und sich auch mit der neuen Regierung stark identifizieren. Die PiS hat seit 2015 die öffentliche Debatte ideologisch sehr stark geprägt und viele neue Gesetze eingeführt, die nicht nur auf Widerstand der politischen Linken gestossen sind. Dass die Partei dennoch eine derart grosse Popularität geniesst, ist kontrovers.
SB: Inwiefern ist das kontrovers?
DS: Die PiS und ihr Vorsitzender Jarosław Kaczyński waren letztens gegen die Wiederwahl von Donald Tusk als Präsident des Europäischen Rates. Der Grund: Tusk stehe Angela Merkel zu nahe. Das entscheidende an diesem Konflikt ist, dass Tusk als Pole EU-Ratspräsident ist und zugleich den «grössten Feind Polens» verkörpert. Er wird als Deutscher und somit als Verräter bezeichnet. Ein Meme, das sofort nach den Wahlen im Internet auftauchte, zeigte beispielsweise eine Karte von Europa. Darauf ist Polen und Kaczyński mit der ironischen Bezeichnung «der geniale Stratege» abgebildet. Über solche Memes kann man natürlich lachen, interessant ist aber, dass die Namen der anderen Länder verschwunden sind: Die Schweiz ist mit «Sogar hier Deutschland», Schweden mit «Homo-Deutschland», Finnland mit «Winter-Deutschland» und Italien mit «Papa auch ein Deutscher?» beschriftet. Das sind alles Stereotypen und zugleich polnische Konstruktionen von anderen Nationen. Kaczyński als «der geniale Stratege» ist die Verkörperung aller Stereotypen, die die Polen haben – nicht nur über sich selbst, sondern auch über die anderen, die «Feinde».
SB: Was sagt das über die polnische Identität aus?
DS: Das Besondere an der polnischen Identität ist, dass die Polen immer wieder versuchen, sich als Opfer von den Deutschen zu bestätigen. Diese Idee wird als Konstrukt dauernd wiederbelebt.
SB: Das heisst, die Identitätsbildung resultiert aus einem alten Konflikt, den man nicht ruhen lassen kann?
DS: Genau. Denn aus ökonomischer und kultureller Sicht trifft diese Opferrolle nicht zu. Die Opfer-Täter-Beziehung, die für die polnische Identität so prägnant ist, lässt sich im Zweiten Weltkrieg verorten: Der Überfall der Deutschen am 1. September 1939 trug zur Herausbildung der polnischen Nation bei. Der Krieg verdrängte nämlich die meisten inneren Konflikte in Polen, indem sie durch den Kampf gegen den gemeinsamen Feind ersetzt wurden. Die Aufrechterhaltung der Opferrolle ist auch wichtig mit Blick auf die Judenvernichtung: Bis heute wollen sich die Polen nicht eingestehen, dass sie passive Beobachter der Vernichtung waren, die auf polnischem Territorium stattgefunden hat. Mit Unterstützung der rechtskonservativen Parteien verleugnet die Mehrheit der Gesellschaft auch die Ausschreitungen der polnischen Bevölkerung gegen die Juden, wie etwa Pogrom in Jedwabne im Jahr 1941.
Der Ursprung der Opfer-Täter-Beziehung geht auf das 19. Jahrhundert zurück, als sich die polnische Identität als eine staatenlose Nation etabliert hatte. Diese Identität war eine gesellschaftliche Projektion und ein literarisches Phantasma zugleich, weil Polen politisch nicht existierte. Schon zur Zeit der Teilungen wurde Preussen wegen der Germanisierung als der schlimmste Feind wahrgenommen, obwohl sich der preussische Teil wirtschaftlich am besten entwickelte. Die wirtschaftlichen Unterschiede zwischen West- und Ostpolen sind bis heute bemerkbar.
SB: Nach dem zweiten Weltkrieg war Polen unter sowjetischer Herrschaft. Welchen Einfluss hatte das auf die polnische Identitätsbildung?
DS: Das macht die Sache noch komplizierter. Einerseits wurde die nationale Identität durch den Krieg verstärkt, andererseits war die polnische Gesellschaft ohne die Deutschen und Juden sehr homogen und «suchte» nach dem neuen Feind. So entwickelte sich bald ein Antagonismus, der politisch besonders von der katholischen Kirche genutzt wurde: die Kommunisten, die als Diener des russischen Regimes wahrgenommen wurden und die Antikommunisten, die die «wahre» polnische Identität verkörpern sollten. Der polnische Kulturphilosoph Andrzej Leder stellte in seinem Buch «Die verschlafene Revolution» eine provokante These dar, dass sich in den Jahren 1939 bis 1956 die einzige soziale Revolution in der polnischen Geschichte abspielte, die aber paradoxerweise von Polens Feinden ausgeführt wurde. Die Polen selbst haben die Revolution nur im Traum erlebt und sich bis heute mit diesem passiven Anteil an der Geschichte auseinandersetzen müssen.
SB: Das heisst, die Polen selbst waren nie aktive Akteure in der Geschichte?
DS: Die Kraft, selbst zu agieren und sich als Täter zu sehen, gehört nicht zur polnischen Identität. Im 19. Jahrhundert gab es zwar Aufstände verschiedenster Art: Die Polen kämpften, um ihr Land als Nation aufrechtzuerhalten, traten aber nicht als Akteure in der sozialpolitischen Geschichte auf. Die Revolution 1917 beispielweise war für die Polen nur insofern wichtig, um die nationale Unabhängigkeit 1918 zu gewinnen.
2. Die totale Opferrolle
SB: Welche Auswirkungen hat die Konstruktion der Opferrolle auf das Individuum?
DS: Diese Rolle lässt sich anhand der Abtreibungsdebatte gut veranschaulichen: Im Zentrum der heutigen Debatte steht das «ungeborene polnische Kind» als radikale Manifestation des Opfers einer atheistischen, also nicht-polnischen Gesellschaft.
SB: Im Abtreibungsdiskurs wird die Opferrolle also auf das ungeborene Kind übertragen?
DS: Das ist in der katholischen Bevölkerung Polens die Essenz dessen, was sich weder mit Sprache noch körperlich wehren kann – die totale Opferrolle: Der Fötus ist unschuldig, ermöglicht also die ideale Einverleibung, wie ein Pole sich interpretiert. Das, was ich hier sage, ist natürlich etwas böse. Interessant ist aber, dass in dieser Debatte nicht über die anderen Protagonisten gesprochen wird: über die Frauen oder die Männer, die für das zukünftige Kind sorgen müssen. Man spricht nicht über ökonomische Faktoren oder gesellschaftliche Fragen wie fehlende Bildung.
SB: Im sowjetischen Polen war die Abtreibung erlaubt, heute ist sie verboten. Inwiefern widerspiegelt sich der Opferdiskurs in der historischen Veränderung der Debatte über die Abtreibung?
DS: Die Debatte wurde in der Zwischenkriegszeit schon einmal geführt. Viele Intellektuelle und Kunstschaffende setzten sich in den 1930er-Jahren für das Abtreibungsgesetz ein und leisteten Aufklärungsarbeit unter breiten Gesellschaftsschichten. Die Rechtkonservativen plädierten damals für die Bestrafung der Frauen und Ärzte. Im sowjetischen Polen war dann die Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche erlaubt. Nach 1989 kam die Debatte um ein Verbot erneut auf. 1993 wurde das Gesetz eingeführt, dass die Frau nur abtreiben darf, wenn sie vergewaltigt wurde, ihr Leben bedroht ist oder das Kind mit einer Behinderung geboren würde. Die Abtreibung wurde aber seitdem fast unmöglich, weil der Zugang zur Pränataldiagnostik gering ist und der Druck der Kirche auf die Ärzte dagegen so stark, dass die meisten Gynäkologen die Ausführung der legalen Abtreibung aus «ethischen Gründen» absagen. Nun wird die Debatte noch einmal wiederholt: Die Rechtsradikalen wollen das Gesetz so verschärfen, dass es keine Ausnahmen mehr gibt. Das ist eine Verabsolutierung der Idee, die vom polnischen Papst Johannes Paul II. so stark verbreitet wurde, dass die Abtreibung mit dem Mord gleichgesetzt wird. Diese ethische Dimension wurde in Polen sofort politisch interpretiert, da der Papst mehrmals betonte, dass eine Nation, die ihre Kinder vernichtet, keine Zukunft habe.
Hinzu kommt, dass die polnischen Frauen bis in die 1980er-Jahre fast keinen Zugang zu Verhütungsmitteln hatten. Es gab viele, die abgetrieben haben – mehr als einmal. Darüber gesprochen wurde nicht, weil die sozialen Probleme von der sogenannten «grossen» Politik überschattet wurden. In den 1980er-Jahren gewann Amerika immer grösseren Einfluss auf die polnische Gesellschaft. Ronald Reagan unterstütze damals die Solidarność-Bewegung finanziell, die bei der Wende 1989 entscheidend mitwirkte. Dabei wird oft übersehen, wie sehr Reagan als Abreibungsgegner den Diskurs in Polen geprägt hat. Die Rolle der katholischen Kirche in Polen darf dabei ebenfalls nicht vergessen werden: Sie unterstützte nicht nur die Solidarność-Bewegung, sondern förderte auch das Thema der Abtreibung als politische Frage. Der amerikanische Film «Der stumme Schrei» (The Silent Scream) wurde von der Kirche als Propagandafilm benutzt. Darin wird auf Ultraschallaufnahmen gezeigt, wie ein «ungeborenes Kind» ermordet wird. Ein makabrer Film, der eigentlich verboten sein sollte. In Polen wurde er aber in den Kirchen verbreitet und Jugendlichen gezeigt. Viele Frauen, die im sowjetischen Polen abgetrieben haben, wurden durch diesen Film traumatisiert
3. Das patriarchale System
SB: Das Thema Abtreibung wurde in der Schweiz aktuell durch Milo Raus Theaterstück «Die 120 Tage von Sodom» zum Politikum. Im Vergleich zu Polen findet hier aber eine ganz andere Diskussion statt. Was sagt es aus, dass das Thema so konträr verhandelt wird?
DS: Man kann sich kaum vorstellen, wie stark sich Polen und die Schweiz voneinander unterscheiden. Einige Tage nach der Premiere von «Die 120 Tage von Sodom» im Schauspielhaus Zürich wurde in Polen das Stück «Fluch» von Oliver Frljić aufgeführt und löste einen politischen Skandal aus. Die beiden Stücke verbindet die Frage nach der Zulassung der Abtreibung, die Perspektiven resultieren aber aus verschiedenen gesellschaftlichen Hintergründen. Bei Milo Rau geht es um die Pränataldiagnostik als eine zeitgenössische Form von Faschismus, als ein hochzivilisierter Holocaust, bei dem über das Leben der anderen, vor allem Menschen mit Behinderungen, entschieden wird. Diese Aussage ist insofern provokant, weil sie von jemandem gemacht wird, der sich zwar als Marxist bezeichnet, der aber wie Johannes Paul II. argumentiert.
Im Stück «Der Fluch» hielt dagegen eine Frau als zukünftige Mutter einen Monolog über den Plan, im Ausland abzutreiben. Weil sie zum Mittelstand gehört, kann sie sich das finanziell leisten und im Fall einer ungewollten Schwangerschaft immer wiederholen. Die Frage der Abtreibung ist in dem Stück eine Frage nach dem sozialen Hintergrund. Interessant ist in beiden Fällen, wer konkret was mit dem Verbot erzielen will. In Polen wie auch in der Schweiz sind es vor allem die Männer, die über die Grenze zwischen Leben und Tod, zwischen dem Menschen und Nicht-Menschen entscheiden wollen. Die Frauen werden nicht danach gefragt. Die patriarchale Struktur ist übrigens etwas, was Polen und die Schweiz verbindet: Polen ist von der patriarchalischen katholischen Kirche geprägt, die Schweiz durch das ökonomische und politische System.
SB: Damit sprichst du das Frauenstimmrecht an, das in der Schweiz sehr spät eingeführt wurde.
DS: Die Frauen haben in der Schweiz erst spät ein politisches Bewusstsein gewonnen, beziehungsweise das Stimmrecht von den Männern erhalten. Das finde ich an diesem System etwas verkehrt.
SB: Wie sehr ist dein Blick auf die Schweiz von deiner Herkunft, wie sehr von deiner Rolle als Kulturwissenschaftlerin geprägt?
DS: In einem fremden Land wird man sich der eigenen Perspektive bewusst. Ich bin eine polnische Kulturwissenschaftlerin in der Schweiz. Wenn ich die These von Milo Rau beurteile, muss ich mich zurückhalten. Als Polin kritisiere ich das Stück, finde es politisch abstossend. Als Kulturwissenschaftlerin weiss ich, dass Milo Rau als ein anerkannter Regisseur in einer wohlsituierten Gesellschaft eine andere Perspektive auf das Thema haben kann. Künstlerische Provokation bedeutet hier sicherlich etwas anderes als in Polen. Dort ist es provokant, auf der Bühne eine Szene zu spielen, in der eine Frau ein Ultraschallbild ihres ungeborenen Kindes zeigt und sagt, dass sie es trotz des Verbots abtreiben wird. In der Schweizer Gesellschaft ist es skandalös, wenn ein weisser und gesunder Mann Pränataldiagnostik als eine Form von Faschismus in der Gesellschaft bezeichnet. Ich bin mit der Aussage von Milo Rau nicht einverstanden und finde den Vergleich im Stück nicht nur inhaltlich, sondern auch szenisch misslungen. Dennoch halte ich es für wichtig, darüber zu diskutieren, was heutzutage in einer Gesellschaft als faschistisch gilt.
Dorota Sajewska ist Theater- und Kulturwissenschaftlerin. Sie lehrt seit Herbst 2016 an der Universität Zürich Polonistik und Interart (Osteuropa) und ist Mitglied des Zentrums Künste und Kulturtheorie (ZKK).
Der Balken in meinem Auge ist eine geteilte Rubrik von Coucou und Zollfreilager, dem Kulturmigrations-Observatorium des Masters Kulturpublizistik der ZHdK. Die darin erscheinenden Interviews beleuchten die Kultur, ihre Praxen und Politiken als Frage der Multiperspektivität. Das Interview mit Dorota Sajewska wurde von Sandra Biberstein am 22. März 2017 in Zürich geführt.