Eleonora, du hast mit fünf anderen Winterthurer*innen bei der Ausstellung «Reality Check! – Arbeit, Migration, Geschichte(n)» des Museums Schaffen mitgearbeitet. Wie seid ihr vorgegangen?
ES: Wir haben uns in fünf Workshops getroffen, in denen wir uns sowohl auf einer fachlichen als auch auf einer persönlichen Ebene bewegten. So wählten wir Themen aus, die wir vertiefen wollten und überlegten, wie wir selbst unsere postmigrantische Stadt erleben. Schliesslich ging es konkret um die Gestaltung der Ausstellung: Welche Räume wollen wir erschaffen, damit ein echter Austausch stattfinden kann? Wir wollten etwa das Gefühl eines ersten Gesprächs beim Staatssekretariat für Migration (SEM) spürbar machen, was uns gelungen ist, denke ich.
Was ist der Vorteil einer solchen partizipativen Kuration?
ES: Ich denke, durch die Reflexionsgruppe ist es gelungen, mit begrenztem Budget viel tiefer zu forschen und zu reflektieren als dies mit nur zwei Kurator*innen möglich gewesen wäre. Die Ausstellung ist nicht gross, aber die Forschung dahinter riesig. Es wurde sogar ein Glossar erarbeitet, um wichtige Begrifflichkeiten zu klären.
Welcher Aspekt war dir persönlich sehr wichtig?
ES: Gerade Kindern sind oft nur die negativen Seiten von Migration bewusst. So wird viel Scham produziert. Das ist hochproblematisch. Ich selber spreche vielleicht nicht perfekt Deutsch, aber ich spreche drei verschiedene Sprachen! Ich finde es wichtig, die positiven Seiten der Migration in den Fokus zu rücken. Denn mit Migrant*innen kommen nicht nur Arbeitskräfte, sondern auch so viel Sprache, so viel Kultur, so viel Vielfalt in eine Stadt.
Du benutzt den Begriff Postmigration, was heisst das genau?
ES: Postmigration ist das Idealbild einer Gesellschaft, in der Migration ein obsoletes Wort wäre und man nur Menschen sehen würde, die sich in einem Raum bewegen. Wenn man nicht mehr von Multikulturalität, sondern von Interkulturalität reden würde. Die postmigrantische Gesellschaft hat etwas Neues erschaffen, in ihr muss sich niemand mehr integrieren, weil es keine Norm mehr gibt, nichts an dem man sich anpassen muss oder kann.
Fast die Hälfte der Winterthurer*innen haben einen sogenannten Migrationshintergrund. Was bedeutet das für eine Stadt?
ES: Die industrielle Vergangenheit von Winterthur ist das perfekte Beispiel dafür, dass in dieser Stadt das Neue bereits entstanden ist: Fremd und nicht-fremd gibt es eigentlich nicht mehr. Denn die Identität, die Winterthur heute besitzt, ist die Geschichte von Bewegung, von Einflüssen aus anderen Kulturen, Sprachen und Erfahrungen.
Eleonora Stassi ist Pädagogin, Kuratorin und Musikerin. Ihre Band Tariya Mare, mit der sie am 5. Oktober im Museum Schaffen auftritt, ist in der Gisi geboren.
Anna Berger ist Redakteurin im Coucou, denkt gerne über die Welt und die Gesellschaft nach und mag es, Sprache zu erforschen und damit zu spielen.