Ich war nicht mehr von immensen Gebäuden umgeben, die mich staunen und mich klein fühlen liessen. Doch auf dem Weg durchquerte ich mit meiner Mutter die Rathauspassage, die mich aufgrund der Säulen und Deckenmalerei kurz nach Rom zurückversetzte. Dann schlugen wir in die Obergasse ein, mit ihren aneinandergereihten farbigen Häusern und den kleinen Läden und Cafés in den Erdgeschossen, bis wir zur gesuchten Fussgängerpassage gelangten. Zu sehen war eine dunkle Passage mit zwölf Löchern in der Decke, durch die Licht strömte. «Das ist es?», fragte mich meine Mutter unbeeindruckt. Ihre eigentliche Frage war: «Das ist Kunst?» Was ist Kunst? – die womöglich meistdebattierte Frage in der Kunstwelt. Nachdem ich mich sechs Monate lang an die Strassen Roms gewöhnt hatte, konnte ich die Reaktion meiner Mutter gut verstehen. Bei zeitgenössischer Kunst brauche ich auch oft mehr Kontext, damit mein Interesse geweckt wird.
Nicolai, der Erschaffer des auf den ersten Blick wenig beeindruckenden Werks, arbeitet mit unterschiedlichsten Medien, wobei die Gegensätzlichkeit von Kunst und Natur beziehungsweise Künstlichkeit und Natürlichkeit bei ihm ein beliebtes Motiv ist. «How are we today» ist ein Beispiel dafür. Wenn man sich nämlich direkt unter eines der Löcher stellt und hochschaut, scheint einem durch neun kleine Glasquadrate das Sonnenlicht ins Gesicht – sofern es Tag ist. Mittig ist zusätzlich eine Lampe angebracht, welche auch in den dunklen Stunden für Licht sorgt. Nicolai vereint hier somit die Künstlichkeit mit der Natürlichkeit, indem er mit Natur- und Kunstlicht spielt.
Die Definition von Kunst ist im Falle dieses Kunstwerks vor allem an die Zweckmässigkeit gebunden. Zentrum ist die Beleuchtung und nicht das Beeindrucken von Passant*innen. Beim Entlangschlendern der Passage würde nicht einmal auffallen, dass man sich unter Kunstwerken befindet. Auch die Thematik der Künstlichkeit und Natürlichkeit ist alles andere als offensichtlich. Also Augen auf, Kunst kann versteckter sein, als zunächst erwartet.
Chelsea Angel Neuweiler studiert Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Zürich.
Jonas Reolon ist Fotograf und Kameramann aus Winterthur.