Dort fällt sofort der in die Höhe ragende Sockel mit der Engelsfigur ins Auge. Normalerweise thront eine solche Statue in der Mitte eines Platzes, doch hier befindet sie sich am hinteren Ende des Geländes. Es scheint, als ob sie von dort aus über den Ort wachen würde.
Der Sockel, auf dem die Engelsfigur ruht, besteht aus Granit und passt so farblich zum Kiesboden und der Steinmauer. Aufgrund seiner Höhe von fast sechs Metern kann die Engelsfigur nur von unten betrachtet werden. Dadurch wirkt die Skulptur einerseits unnahbar und distanziert, andererseits fügt sich der Sockel so in seine Umgebung ein, dass er fast verschwindet und die Engelsfigur zu schweben scheint. Der Engel aus Kupfer steht auf dem Sockel und hat das linke Bein vorgestellt. Ein Tuch umspannt seine Hüfte wie ein Gürtel und bedeckt seinen Schambereich, während er ansonsten unbekleidet ist. Seinen linken Arm streckt der Engel nach oben, den Zeigefinger in die Höhe gereckt, während sein rechter Arm schlaff nach unten hängt. Sein Rücken wird von zwei grossen Flügeln geschmückt.
Die Engelsfigur wurde im Jahr 1935 vom Künstler Karl Geiser geschaffen. Dieser erstellte zu Lebzeiten viele Plastiken, wobei er meistens Menschen darstellte. Eine Vielzahl seiner Plastiken wurde als integraler Bestandteil für städtische Bauwerke konzipiert und umgesetzt. Als Vorlage für die Engelsskulptur diente die plastische Figur «Stehender Knabe» aus dem Jahr 1932, die heute auf dem Pausenhof des Gymnasiums Thun zu finden ist.
Die Engelsskulptur schafft auf verschiedenen Ebenen eine symbolische Verbindung zwischen Himmel und Erde. Schon die Figur des Engels an sich, der zwar ein menschliches Äusseres aufweist, mit seinen Flügeln aber doch ein himmlisches Wesen ist, vereint die beiden Gegensätze. Diese Verbindung wird weiter verstärkt durch die Haltung des Engels, dessen linke Hand mit erhobenem Zeigfinger Richtung Himmel zeigt, während sein rechter Arm als Gegenpol locker am Körper herabhängt. Obwohl der Engel nicht konkret nach unten zeigt, wirkt es durch den Gegensatz wie ein Zeigen auf die Erde. Letztendlich schafft die Höhe des Sockels eine Ebene zwischen Himmel und Erde. Der Engel fungiert dabei als verbindendes Element, indem er zwischen den beiden Ebenen steht. Passender könnte eine Figur auf einem Friedhof nicht sein.
Sophia Vogt studiert Kunstgeschichte und Deutsche Sprach- und Literaturwissenschaft an der Universität Zürich.
Jonas Reolon ist Fotograf und Kameramann aus Winterthur.